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Du Durchschaust Mich Nicht

Du Durchschaust Mich Nicht

Titel: Du Durchschaust Mich Nicht
Autoren: Farid
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ich bin sehr gespannt, was dort passieren wird. Als Frau Bellmann, eine Erzieherin, mich hineinbringt, sehe ich nur einen Tisch und einen Stuhl in dem Raum. Und da steht ein Teller auf dem Tisch. Ich darf mich auf den Stuhl vor den leeren Teller setzen. Was wohl daraufkommt? Ah, Frau Bellmann legt ein Stück Schokolade darauf. Schokolade mag ich sehr gern. Frau Bellmann sagt: »Du darfst das Stück Schokolade essen. Aber wenn du damit wartest, bis ich wieder hereinkomme, dann bekommst du noch ein zweites Stück. Bis ich wiederkomme, dauert es eine Weile.«
    »Ich darf es essen?«, frag ich schnell noch mal.
    »Ja«, sagt sie, »aber wenn du wartest, bekommst du noch eins dazu. Ich geh jetzt raus, bleib schön auf dem Stuhl, okay? Bis gleich.«
    Jetzt bin ich allein in dem Raum, sitze vor dem Teller und gucke die Schokolade an. Ich hätte gern zwei Stücke. Aber die sieht so lecker aus. Am besten halte ich meine Hände unter dem Tisch. Ich schaue zur Seite. Aber das kann ich nicht so lange. Wie lange dauert das denn noch? Jetzt ruckelt mein Kopf wie von selbst zum Teller runter. Mhhhm, riecht das gut. Ups, jetzt liegt meine Nase auf der Schokolade. Ach, warum nicht mal anfassen. Und in den Mund schieben? Schnell lass ich es wieder auf den Teller plumpsen. Ich rieche an meinen Händen und lecke die Finger ab. Und wenn ich nur ein ganz kleines Stück abbeiße? Ein winziges Stück? So dass es gar nicht auffällt? Mein Zeigefinger tastet das braune Quadrat ab.
    Nein, nein, nein, schnell den Finger wieder weg. So tun, als ob es nicht da ist. Aber da ist meine Hand wie automatisch zu dem Teller hingerutscht. Wenn Frau Bellmann jetzt nicht endlich zurückkommt … Ich setze mich falsch herum auf den Stuhl. Und gucke in die Luft. Und zapple mit den Beinen. Gleich bekomme ich mehr Schokolade, gleich bekomme ich mehr Schokolade, Schokolade, Schokolade … Vielleicht doch noch mal daran riechen … und lecken … Mhhhm … Oje, ich kann nicht mehr warten …
     
    Der Psychologe Walter Mischel hat genau so einen Test Ende der 60 er Jahre in den USA durchgeführt. Der Test wurde unter dem Titel »Marshmallow-Test« bekannt, weil es ein Marshmallow für die Kinder gab, alternativ reichte man den Kindern aber auch ein Stück Schokolade oder einen Keks. Der Test zeigt, wie leicht oder schwer es den Kindern fällt, sich von etwas, das sie sehr gern essen wollen und dürfen, abzulenken, um sich durch den Aufschub eine Belohnung zu verdienen.
    Weggucken, zappeln, singen, Grimassen schneiden, die Hand vors Gesicht halten, in eine scheinbare Starre verfallen, es gibt nichts, was die Kinder nicht ausprobieren. Jedes entwickelt unbewusst eine eigene Strategie und versucht, seine Wahrnehmung von der Süßigkeit weg auf etwas anderes zu lenken. Es gibt aber auch Kinder, die noch im Beisein der Testleiterin das eine Marshmallow genüsslich verspeisen und sich um das Versprechen eines zweiten nicht scheren.
    Dies allein ist schon eine interessante Betrachtung. Aber Jahre später fand der Psychologe noch etwas Bedeutsameres heraus. Er lud die Kinder von damals noch einmal ein und befragte sie. Er stellte fest, dass die Kinder, die sich damals gut ablenken konnten und so den Aufschub erfolgreicher gestaltet hatten, es als Jugendliche in der Schule leichter und auch sonst weniger Probleme hatten. Mischel setzte die Untersuchung bis ins Erwachsenenalter der Versuchsteilnehmer fort und konnte seine Ergebnisse noch untermauern. Schulabschluss und Berufswahl, Selbstbewusstsein und Stressresistenz, Zufriedenheit in einer Partnerschaft usw.: Je nachdem, wie der Test in der Kindheit ausgefallen war, waren die Probanden als Erwachsene mehr oder weniger erfolgreich.
    Einer kurzfristigen Verführung entsagen zu können ist also eine Fähigkeit, die bei der Bewältigung des Lebens sehr hilfreich sein kann! Mischel soll dazu geäußert haben, dass diese Fähigkeit an sich allerdings wertneutral sei, man brauche sie, ob man nun Mafiaboss werden wolle oder ein zweiter Gandhi. Alle Vorausschaubarkeit hat eben auch ihre Grenzen.
     
    Die Selbstkontrolle baut sich mit dem Älterwerden erst auf, und trotzdem gibt es Erwachsene, die sich gewisse Wünsche sofort erfüllen müssen, ganz so, als wären sie ein kleines Kind. Das ist manchmal mit großen Dingen so, ein Autokauf etwa, aber auch mit vielen kleinen. Überlege selbst einmal, wie du mit deiner Lust auf Schokolade, oder was immer du besonders gern magst, umgehst. Stillst du deinen Heißhunger sofort?
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