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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind /
Autoren: Sabine Kuegler
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Tor als eine Tür. Das Internat, ein kleines Schloss, das mein neues Zuhause sein würde, lag direkt am Genfer See und war eine »Finishing School«, eine Schule für heranwachsende Mädchen, die auf das Leben an der Seite eines noch zu findenden Ehemanns vorbereitet werden sollten. Mein Onkel hatte sie ausgesucht mit der Begründung, dass ich hier nicht nur meinen Highschool-Abschluss würde machen können, sondern gleichzeitig eine Ausbildung zu einer modernen jungen Frau bekäme. Was er damit meinte, verstand ich damals nicht. Aber ich war glücklich über sein Angebot und empfand es als gute Möglichkeit, diese andere Welt kennenzulernen.
    Mit Herzklopfen trat ich ein. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, wunderschöne Tapeten und Ölgemälde schmückten die Wände. Im Flur entdeckte ich eine Wendeltreppe, die sich elegant nach oben schlängelte und mir das Gefühl gab, ich wäre in einem anderen Jahrhundert gelandet. Eine junge Dame begrüßte uns auf Französisch, eine Sprache, die mir neu war. Ich lächelte freundlich, wurde in ein Zimmer begleitet und setzte mich vorsichtig auf einen Sessel, der so weich gepolstert war, dass ich tief hineinsank. Die Dschungelwelt, aus der ich gekommen war, existierte für mich nicht mehr. Alles sah genauso aus, wie ich es mir erträumt hatte.
     
    Ich teilte ein Zimmer im obersten Stockwerk mit zwei Mädchen, mit denen ich mich auf Anhieb gut verstand. Leslie kam aus Australien und Susanne aus Deutschland. Die beiden merkten schnell, dass ich viel Nachholbedarf hatte in allem, was gesellschaftliche Umgangsformen betraf. Sofort beschlossen sie, mich zu zivilisieren. Sie zeigten mir eine Welt, die weniger tropisch nicht hätte sein können: Kinos, Bars, Geschäfte, Restaurants, Jungs, Busse und, unseren Lieblingsaufenthaltsort, eine Billardbar. Dort machte ich meine ersten Männerbekanntschaften, lernte viel über Musik und Videos und hörte gespannt zu, wenn sich die anderen über Schauspieler oder Filme unterhielten.
    Ich begriff schnell, dass ich einen großen Mangel an »Wissen« hatte, und wollte so viel wie möglich lernen. Jede Woche kaufte ich mir Stapel an Zeitschriften und versuchte mir die Namen von Sportlern, Schauspielern und Musikern zu merken. Zeitungen dagegen mied ich, die hatten zu wenige Bilder, und mein Deutsch ging nicht über das Niveau von Asterix und Obelix, die wir im Dschungel mit Begeisterung verschlungen hatten, hinaus. Bald wusste ich auch, wie man einen Drink bestellt, wie man sich in einem Bus verhält und gegenüber anderen Menschen, und dass man niemanden sofort anfassen darf. Das könnten besonders die jungen Männer falsch verstehen.
    Ich verlor mich in einem Wirrwarr von Farben, von Geschehnissen, neuen Technologien und in einer Landschaft, die so anders war als die, die ich zurückgelassen hatte. Aber ich fühlte mich gut aufgehoben, denn ich war wieder in einem System, das feste Regeln kannte und einer Stammesstruktur glich. Es gab ein Häuptlingspaar: den Direktor und seine Frau. Ihm folgten einige Älteste, unsere Lehrer und Aufpasser. Danach kamen die Schülerinnen, fünfzehn Mädchen. Unter denen waren viele eng befreundet, unterstützten sich gegenseitig und schützten einander.
    Der Ablauf unserer Tage war immer gleich, wir lebten abgeschieden in einer Welt, die ich als heil empfand.
    Hinzu kam, dass die Mädchen aus aller Herren Ländern stammten, und deshalb viel Verständnis für meine ungewöhnlichen Angewohnheiten zeigten. So klopfte ich zum Beispiel jeden Morgen meine Schuhe aus, um sicherzugehen, dass sich kein giftiges Tier darin eingenistet hatte. Und ich begrüßte jeden, der mir auf der Straße begegnete; sonst könnte der ja denken, ich wäre ein Feind, und mich angreifen. Mit der Zeit legte ich auch diese Angewohnheiten ab und wurde zu einer jungen, modernen Frau, zumindest äußerlich.
    Natürlich aber machte ich auch Erfahrungen mit der Welt außerhalb des Internats, die nicht so glatt verliefen. So ging ich, als mein Reisepass erneuert werden musste, zum deutschen Konsulat in Genf. Eigentlich eine einfache Aufgabe für mich, denn ich hatte schon in Indonesien Erfahrung auf dem Gebiet »Behördengänge« gesammelt. Dort ging man hin, legte eine kleine »Spende« zwischen die Dokumente, und kurze Zeit später war alles erledigt. Ich stand also vor dem Schalter beim deutschen Konsulat, die Papiere waren ordnungsgemäß ausgefüllt, und legte eine kleine »Spende« von fünfzig Schweizer Franken in meinen Pass. Vorher hatte
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