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Draußen wartet die Welt

Draußen wartet die Welt

Titel: Draußen wartet die Welt
Autoren: Nancy Grossman
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sahen einander mit gehobenen Augenbrauen an. Ihre Mutter stieß Caroline in die Seite, die daraufhin zögernd den Kopf senkte. Das Tischgebet rauschte förmlich durch meinen Kopf, und ich spürte, wie sich meine Lippen stumm zu den vertrauten Worten bewegten, die meine Mutter sprach: »Wir danken dir, himmlischer Vater, für die Gaben, die wir heute empfangen dürfen. Mögen wir uns als wahrhaft dankbar für die Großzügigkeit erweisen, die du uns gezeigt hast. Amen.«
    Die Gäste hoben den Kopf, sobald meine Mutter und ich es taten. Einige von ihnen tauschten ein wenig peinlich berührte Blicke. Die beiden Mädchen sahen einander an, als wäre gerade ein Scherz gemacht worden.
    Ich drehte mich um, um herauszufinden, ob meine Mutter es auch bemerkt hatte, aber sie sah genauso aus wie immer nach einer Andacht: friedvoll und erholt, die Falten um ihren Mund und zwischen ihren Augenbrauen ein wenig weicher. Nach dem Beten sieht meine Mutter sogar hübsch aus. Ich stelle das jedes Mal fest, aber es ist immer wieder eine Offenbarung.
    »Eliza und ich werden Ihnen das Essen servieren«, verkündete meine Mutter. »Nach dem Essen beantworte ich gerne Ihre Fragen.«
    Auf ihr Stichwort hin nahm ich die Platte mit dem Hühnchen und balancierte sie auf meinem linken Arm. »Möchten Sie lieber helles oder dunkles Fleisch?«, fragte ich eine der Frauen. Sie trug ein einfaches kirschrotes Kleid ohne Verzierungen. Ihr braunes Haar fiel über ihre Schultern, und ihre Augen waren von einer schlichten Schönheit, die ganz ohne die aufgemalten Farben auskam, an die ich mich in den Gesichtern der englischen Frauen bereits so gewöhnt hatte. Für eine Englische sah sie eigentlich viel zu langweilig aus. »Weißes Fleisch, bitte«, antwortete sie. Sie beobachtete mich genau, während ich sie bediente. »Vielen Dank, Eliza«, sagte sie, so als kenne sie mich bereits. »Wie alt bist du? Fünfzehn? Sechzehn?«
    »Sechzehn«, erwiderte ich.
    Sie nickte und lächelte. Da ich nicht wusste, was ich sonst noch sagen sollte, ging ich zum nächsten Gast weiter. Es war die Frau mit dem orangefarbenen Haar, deren silberne Armbänder wie die Glöckchen an einem Schlitten sangen, als sie auf das Stück Hühnchen zeigte, das sie wollte. Als ich Jess und Caroline erreichte, hielt ich die Platte ein wenig fester. Jess deutete auf ein Bruststück und ich legte es auf ihren Teller. Ihre Schwester senkte den Kopf, einen schlecht gelaunten Ausdruck auf dem Gesicht. »Möchtest du lieber dunkles oder helles Fleisch?«, fragte ich sie.
    Sie schüttelte den Kopf. »Gibt es hier auch irgendwas ohne Fleisch?«
    »Caroline!« Ihre Mutter warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Es tut mir leid. Sie ist Vegetarierin.«
    »Es gibt auch Kartoffeln und gemischtes Gemüse aus unserem Garten«, sagte ich.
    Caroline nickte und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ich fragte mich, ob ihre Eltern sie wohl gezwungen hatten, mitzukommen und bei uns zu Abend zu essen. So wie meine Eltern von uns verlangen, dass wir zur Kirche und zu den Gemeindeversammlungen gehen. Ich stellte die Platte mit dem Hühnchen zurück auf die Anrichte und griff nach der Schüssel mit dem Gemüse. Meine Mutter folgte mir mit dem Brotkorb, bis wir all unsere Gäste bedient hatten.
    Während sie aßen, verschwand meine Mutter in der Küche, um den Nachtisch zuzubereiten. Ich blieb neben der Anrichte stehen, bereit, auf Wunsch Nachschlag zu servieren oder Wassergläser aufzufüllen. Normalerweise gefiel mir diese Einteilung, weil ich so in aller Stille die Englischen beobachten und ihren Geschichten lauschen konnte. Aber an diesem Abend hingen meine Hände nur nutzlos herunter. Mein Kleid und meine Schürze kamen mir neben Jess’ und Carolines schicker Kleidung unförmig und wenig kleidsam vor.
    Ich hatte mich schon oft gefragt, wie es wohl sein würde, englische Teenager kennenzulernen. In meiner Vorstellung fing ich geistreiche Unterhaltungen mit ihnen an und sie erzählten mir alles über Musik und Filme und das Tanzen. Aber nun, da sie hier waren, fühlte ich mich unbeholfen und brachte kaum einen Ton heraus.
    Gelegentlich holte eine der beiden einen kleinen schwarzen Gegenstand aus ihrer Hosentasche und legte ihn auf ihre Handfläche. Sie sah ihn an, tippte ein paarmal mit dem Daumen darauf herum und ließ ihn dann wieder in ihrer Hosentasche verschwinden. Ich fragte mich, ob diese Geräte wohl Mobiltelefone waren, aber keines der Mädchen hielt sie sich ans Ohr oder sprach hinein.
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