Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
Unwillkürlich fuhr ihre Hand zu dem Amulett, das sie unter dem Pullover trug, und drückte es mit verkrampften Fingern.
›Was mache ich, wenn das der Feind ist?‹
Plötzlich begann das Mal auf ihrer Stirn zu pulsieren, und eine vertraute Wärme überkam sie: Das war Thuban, der Drache, dessen Geist in ihr fortlebte. Seit dem letzten Kampf hatte sie hart trainiert und war jetzt in der Lage, die Kräfte des Drachens auf Kommando wachzurufen. Sie hatte sogar gelernt, Thubans Flügel wachsen zu lassen, richtige Flügel aus Fleisch und Blut, mit denen sie fliegen konnte. Schon spürte sie den Druck, den sie auf ihre Schultern ausübten. Sie war kampfbereit und würde sich zu wehren wissen, falls es nötig sein sollte.
Das Geräusch kam näher. Sofia duckte sich hinter einen Strauch und lugte mit pochendem Herzen dahinter hervor. Da, das Klopfen war verstummt. Angestrengt starrte sie ins Halbdunkel – und sah sie: Eine schwarze Gestalt hatte sich unter der riesigen Bronzescheibe niedergelassen. Nur wenige Meter entfernt pickte eine Schar Tauben auf dem Boden herum.
Sofia musste an Nida denken, die junge schöne Dienerin Nidhoggrs, gegen die sie vor einigen Monaten um die Frucht gekämpft hatte. Ob sie das war?
Die Drachenschwester rückte ein wenig vor, gerade weit genug, um die Gestalt etwas deutlicher erkennen zu können. Sie musste wissen, ob Nidhoggr in der Nähe war, ob diese Ausgeburt des Bösen sie wieder verfolgen ließ.
Nun sah sie in dem matten Licht, das durch die Baumkronen drang, einen weißen Haarschopf, der zu einem Knoten zusammengerafft waren, und den gedrungenen Körper einer alten Frau. Erleichtert atmete sie auf, und ihr Herzschlag beruhigte sich.
»Ich habe dich gehört«, rief da die Frau.
Sofia stockte der Atem.
»Ich weiß, dass du da bist. Hab keine Angst, ich beiße nicht.«
Erneut klammerten sich Sofias Finger fest um das Amulett auf ihrer Brust. Nida war das nicht, aber wer sagte ihr, dass die Frau harmlos war?
»Die Tauben wollen auch fressen, genauso wie wir«, fügte die Alte hinzu. Ihre Stimme klang vertrauenerweckend. Jetzt machte sie ein sanftes Gurren nach, und die Tauben tippelten noch näher an sie heran.
›Das würde sie nicht tun, wenn sie zu Nidhoggr gehören würde‹, dachte Sofia. Sie zog ihren Mantel enger um sich und trat einen Schritt vor.
Die Alte war ganz in Schwarz gekleidet mit einem abgewetzten Pullover, einem Wollrock und dicken Strümpfen. An den Füßen trug sie Holzschuhe. Eine harmlose alte Frau. Mehr nicht.
»Siehst du jetzt, dass ich nicht beiße?«, wiederholte die Alte noch einmal. »Du kannst mir helfen«, fuhr sie fort und hielt Sofia einen Kanten Brot hin.
Zögernd trat das Mädchen näher, nahm den Brotkanten entgegen und kauerte sich ebenfalls nieder. Sofort liefen die Tauben herbei.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier mal jemanden treffe«, sagte sie, nur um etwas zu sagen.
»Ja, in diesen Garten kommen nicht sehr viele Leute«, bestätigte die Alte mit einem Lächeln. »Deswegen fühle ich mich hier auch so wohl.«
»Mir geht es genauso«, bemerkte Sofia.
»Der Garten gehört zu einer Kirche«, fuhr die Alte fort, »genauer gesagt, zu einem Kloster. Wahrscheinlich ist es deshalb so ruhig hier.«
Sofia brach etwas Brot ab und warf es den Tauben hin, die sich sofort darum rangelten. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich immer noch befangen, aber sie spürte, dass sie dieser Frau vertrauen konnte.
»Wohnen Sie schon lange in der Stadt?«, fragte sie.
Die Miene der Alten schien sich einen Augenblick lang zu verfinstern. »Oh ja, seit langer, langer Zeit«, antwortete sie dann mit einem Anflug von Schmerz in der Stimme. Dann zeigte sie auf die rote Mauer auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Dort stand eine Skulptur, die Sofia bereits aufgefallen war, dieser Hut, über dem sich zwei dornenbesetzte Zweige kreuzten. »Ich habe hier schon gelebt, als diese Menschen hier waren.«
»Wen meinen Sie?«
Die Alte schwieg verwirrt.
»Na, diese Menschen eben«, bekräftigte sie noch einmal. »Auch du warst in gewisser Weise schon in jenen Zeiten hier. Und sogar früher noch. Viel früher. Nicht wahr?«
Sofia spürte, wie ihr ein langer Schauer durch die Glieder fuhr.
»Wer bist du?«
Die alte Frau lächelte. »Ich kann es spüren, wenn jemand etwas Besonderes hat. Und du hast etwas Besonderes. So wie sie.«
»Wer ›sie‹?«
»Sie eben«, murmelte die Alte unsicher. »Sie«, wiederholte sie dann noch einmal mit trauriger
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