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Dolores

Dolores

Titel: Dolores
Autoren: Stephen King
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Dutzendmal, aber letzten Endes landete man immer auf dem Gehsteig. Deshalb hatte ich, als ich anfing, für sie zu arbeiten - das war 1949, im Jahr, nachdem Selena geboren war -, das Gefühl, als ginge ich in eine Drachenhöhle. Aber sie war gar nicht so schlecht, wie die Leute sie machten. Wenn man die Ohren offen hielt, konnte man bleiben. Ich bin geblieben, und der Ungar auch. Aber man mußte die ganze Zeit auf den Beinen sein, weil ihr nichts entging, weil sie immer besser über das Bescheid wußte, was es mit den Leuten auf der Insel auf sich hatte, als die meisten der anderen Sommergäste und weil sie ausgesprochen niederträchtig sein konnte.
    Schon damals, als es ihr noch in jeder Hinsicht gut ging, konnte sie niederträchtig sein. Es war so eine Art Hobby für sie.
    »Wieso sind Sie hier?« sagte sie zu mir an jenem ersten Tag. »Sollten Sie nicht zuhause sein und sich um Ihr Baby kümmern und Ihrem Herzallerliebsten seine Leibgerichte kochen?«
    »Mrs. Cullum passt gern vier Stunden am Tag auf Selena auf«, sagte ich. »Deshalb kann ich nur halbtags arbeiten, Madam.«
    »Eine Halbtagskraft ist alles, was ich brauche. Das jedenfalls stand, wenn ich mich recht erinnere, in meiner Anzeige in diesem Ding, das sich Zeitung nennt«, erwiderte sie sofort - wobei sie mir nur die scharfe Kante ihrer Zunge zeigte und mich nicht tatsächlich mit ihr verletzte, wie sie es später so oft getan hat. Sie strickte an jenem Tag, das weiß ich noch. Diese Frau konnte so schnell stricken, daß man die Nadeln nicht sah - ein paar Socken an einem einzigen Tag war überhaupt kein Problem für sie, selbst wenn sie erst um zehn Uhr angefangen hatte. Aber sie sagte, sie müßte in der rechten Stimmung sein.
    »Jessum«, sagte ich. »Das stand drin.«
    »Ich heiße nicht Jessum«, sagte sie und ließ ihr Strickzeug sinken. »Ich heiße Vera Donovan. Wenn ich Sie einstelle, dann nennen Sie mich Missus Donovan zumindest so lange, bis wir einander gut genug kennen, um daran etwas zu ändern. Und ich nenne Sie Dolores. Ist das klar?«
    »Jessum, Missus Donovan«, sagte ich.
    »Also gut, das wäre geklärt. Und nun beantworten Sie meine Frage. Was wollen Sie hier, Dolores, wo Sie doch einen eigenen Haushalt zu versorgen haben?«
    »Ich möchte ein bißchen Extrageld für Weihnachten verdienen«, sagte ich. Auf meinem Weg zu ihr hatte ich bereits beschlossen, das zu sagen, falls sie mich fragen sollte. »Und wenn Sie bis dahin mit mir zufrieden sind und wenn es mir gefällt, für Sie zu arbeiten, natürlich -, dann bleibe ich vielleicht auch noch länger.«
    »Wenn es Ihnen gefällt, für mich zu arbeiten«, wiederholte sie, und dann verdrehte sie die Augen, als wäre es das Dämlichste, das sie je gehört hatte - wie konnte es jemandem nicht gefallen, für die großartige Vera Donovan zu arbeiten? Und dann wiederholte sie: »Weihnachtsgeld.« Sie machte eine Pause, musterte mich von oben bis unten, und dann sagte sie es noch einmal, sogar noch sarkastischer. »Weih-nachts-geld!« 
    Sie argwöhnte also schon, daß ich in Wirklichkeit nur gekommen war, weil ich kaum den Reis aus meinem Haar geschüttelt und schon jetzt Eheprobleme hatte, und wollte jetzt nur sehen, ob ich rot wurde und die Augen niederschlug, um ihrer Sache sicher zu sein. Also wurde ich nicht rot und schlug die Augen nicht nieder, obwohl ich erst zweiundzwanzig war und nicht viel daran gefehlt hätte. Auch hätte ich keiner Menschenseele gegenüber zugegeben, daß ich tatsächlich Eheprobleme hatte - keine zehn Pferde hätten das aus mir rausgebracht. Weihnachtsgeld war gut genug für Vera, einerlei, wie sarkastisch sie es auch sagen mochte, und alles, was ich mir selbst eingestand, war die Tatsache, daß das Haushaltsgeld ein bißchen knapp war in diesem Sommer. Erst Jahre später konnte ich mir selbst gegenüber den wahren Grund eingestehen, weshalb ich damals losging und den Drachen in seiner Höhle aufsuchte: Ich mußte eine Möglichkeit finden, einen Teil des Geldes zu ersetzen, das Joe im Lauf der Woche versoff und an den Freitagabenden beim Pokern im Hinterzimmern von Fudgy’s Tavern drüben auf dem Festland verlor. Damals glaubte ich noch, daß die Liebe eines Mannes zu einer Frau und die einer Frau zu einem Mann stärker wäre als die Liebe zum Saufen und Pokern daß die Liebe letzten Endes an die Oberfläche kommen würde wie die Sahne in einer Flasche Milch. Im Laufe der nächsten zehn Jahre wurde ich eines Besseren belehrt. Manchmal ist die Welt ein
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