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Dolores

Dolores

Titel: Dolores
Autoren: Stephen King
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Haben Sie gehört? Ich passe nämlich auf, und ich zähle mit!«
    Wenn dann der März kam, träumte ich davon, zu dem Beil zu greifen, das ich und der Ungar dazu benutzten, Anmachholz für den Küchenherd zu zerkleinern (bis er starb natürlich, danach hatte ich den Job für mich allein, ich Glückskind), und diesem keifenden Luder damit einen anständigen Hieb zwischen die Augen zu versetzen. Manchmal konnte ich mich regelrecht sehen, wie ich das tat, so wütend hat sie mich gemacht, aber vermutlich habe ich immer gewußt, daß ein Teil von ihr das Gekeife ebenso haßte, wie ich es haßte, es anhören zu müssen. Das war die erste Art, auf die sie ein Luder war - sie konnte nichts dagegen tun. Im Grunde war es für sie schlimmer als für mich, besonders, nachdem sie ihren ersten schweren Schlaganfall gehabt hatte. Danach gab es wesentlich weniger Wäsche zum Aufhängen, aber sie stellte sich dabei immer noch so an wie in der Zeit, bevor die meisten Zimmer im Haus abgeschlossen und die meisten Gästebetten abgezogen worden waren und die Laken in Plastikfolie eingeschlagen in den Wäscheschränken lagen.
    Was es für sie besonders hart machte, war die Tatsache, daß so um 1985 herum die Tage vorbei waren, an denen sie Leute überraschen konnte - sie war auf mich angewiesen, wenn sie irgendwohin wollte. Wenn ich nicht da war, um sie aus dem Bett zu heben und in den Rollstuhl zu setzen, mußte sie im Bett bleiben. Sie hatte erheblich zugenommen - von ungefähr hundertdreißig Pfund in den Sechzigern auf hundertneunzig, und der größte Teil der Zunahme war dieses gelbe, schwammige Fett, das man bei manchen alten Leuten sieht. Es hing von ihren Armen und Beinen und ihrem Hintern herunter wie Brotteig von einem Stock. Manche Leute werden im Alter klapperdürr, aber nicht Vera Donovan. Dr. Freneau sagte, es läge daran, daß ihre Nieren nicht mehr richtig arbeiteten. Vermutlich hatte er recht, aber es gab eine Menge Tage, an denen ich überzeugt war, daß sie sich dieses Gewicht nur mir zum Tort zugelegt hatte. 
    Und es war nicht allein das Gewicht; sie war außerdem halb blind. Auch das kam von den Schlaganfällen. Das bißchen Sehvermögen, das sie noch hatte, kam und ging. An manchen Tagen konnte sie mit dem linken Auge ein kleines bißchen sehen und verdammt gut mit dem rechten, aber meistens sagte sie, es wäre so, als sähe sie durch einen dicken grauen Vorhang. Ich nehme an, ihr könnt verstehen, warum sie das wahnsinnig machte, sie, die immer so versessen darauf gewesen war, auf alles ein Auge zu haben. Ein paarmal hat sie deshalb sogar geweint, und ihr könnt mir glauben, daß schon sehr viel dazugehörte, um eine so harte Person zum Weinen zu bringen - und sogar nachdem die Jahre sie auf die Knie gezwungen hatten, war sie noch eine harte Person. Was hast du gesagt, Frank?
    Senil?
    Ich bin mir nicht sicher, und das ist die Wahrheit. Ich glaube nicht. Und wenn sie es war, dann bestimmt nicht auf die gewöhnliche Art, auf die alte Leute senil werden. Und das sage ich nicht nur, weil, wenn sich herausstellt, daß sie wirklich senil war, der für die Bestätigung zuständige Richter das Testament dazu benutzen wird, um sich damit die Nase zu putzen. Von mir aus kann er sich den Hintern damit abwischen; mir geht es nur darum, aus dieser verdammten Bredouille rauszukommen, in die sie mich gebracht hat. Aber trotzdem muß ich sagen, daß in ihrem Dachgeschoß keine völlige Leere herrschte, nicht einmal am Ende. Vielleicht waren ein paar Zimmer zu vermieten, aber völlig leer war es nicht.
    Das sage ich vor allem deshalb, weil sie Tage hatte, an denen sie fast so klar war wie früher. Es waren in der Regel zugleich die Tage, an denen sie ein wenig sehen konnte und mithalf, wenn ich sie im Bett aufsetzte, oder sogar imstande war, die paar Schritte von ihrem Bett zum Rollstuhl selbst zu tun, während ich sie sonst hinüberhieven mußte wie einen Sack Korn. Ich setzte sie in den Rollstuhl, damit ich ihr Bett frisch beziehen konnte, und sie wollte darin sitzen, um ans Fenster zu gelangen das Fenster, von dem aus man auf den Hof runterschauen konnte und einen Blick auf den Hafen dahinter hatte. Sie hat mir einmal gesagt, daß sie endgültig den Verstand verlieren würde, wenn sie Tag und Nacht im Bett liegen müßte und nichts anderes anschauen könnte als die Decke und die Wände; bei Gott, ich hab’s ihr geglaubt.
    Sie hatte ihre verwirrten Tage, ja - Tage, an denen sie nicht wußte, wer ich war, und sogar kaum, wer sie
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