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Doktor Proktors Pupspulver

Doktor Proktors Pupspulver

Titel: Doktor Proktors Pupspulver
Autoren: Jo Nesbø
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über die Schulter.
    »Anna ist meine beste Freundin«, erklärte Lise. »Sie ist nach Sarpsborg gezogen.«
    »Ui, das ist weit weg«, sagte Bulle. »Vor allem, wenn es um eine beste Freundin geht.«
    »Ach?«, meinte Lise. »Anna sagt, es ist gar nicht so weit. Sie sagt, ich brauche nur auf der Autobahn nach Süden zu fahren, dann komme ich automatisch zu ihr.«
    Bulle schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. »Nach Süden stimmt schon, aber die Frage ist, ob die Autobahn so lang ist. Sarpsborg liegt nämlich auf der Südhalbkugel.«
    »Der Süd. . . was?«, fragte Lise erschrocken.
    »Halbkugel«, sagte Bulle. »Das bedeutet, es liegt auf der anderen Seite der Erde.«
    »Ui«, sagte Lise betrübt, und nachdem sie ein bisschen nachgedacht hatte, sagte sie: »Papa sagt, im Süden ist es das ganze Jahr über schön warm, da kann Anna jetzt wahrscheinlich im Sommer und im Winter baden gehen.«
    »Nix da«, sagte Bulle. »Sarpsborg liegt sehr weit im Süden, fast am Südpol. Da ist es hundekalt. Da unten sitzen Pinguine auf den Dächern.«
    »Heißt das, in Sarpsborg liegt das ganze Jahr über Schnee?«, fragte Lise erschrocken.
    Bulle nickte und Lise fröstelte. Er drückte die Lippen aufeinander und presste Luft hindurch. Es klang wie ein Pups.
    »Was machst du da?«, fragte Lise.
    »Ich übe«, sagte Bulle. »Ich spiele Trompete. Da muss man ständig üben. Sogar ohne Trompete.«
    Lise legte den Kopf schief und sah ihn an. Sie war nicht mehr ganz sicher, ob alles stimmte, was dieser Junge so erzählte.
    »Lise, du musst dir noch die Zähne putzen, bevor du zur Schule gehst«, hörte sie eine polternde Stimme. Das war ihr Vater, der jetzt seine blaue Kommandantenuniform angezogen hatte und hinter seinem dicken Bauch her zum Gartentor ging. »Heute früh hat das Schiff mit unserem Kanonenschießpulver aus Schanghai angelegt, ich komme also spät nach Hause. Und du musst heute lieb und nett sein.«
    »Jaja, Papa«, sagte Lise, die immer lieb und nett war. Aber sie wusste, es war ein ganz besonderer Tag, wenn das Kanonenschießpulver kam. Es war um den halben Erdball gefahren und musste sehr, sehr vorsichtig und ehrfürchtig behandelt werden, denn es wurde benutzt, um am 17. Mai, dem Nationalfeiertag, auf der Festung Akershus den Großen Und Fast Weltberühmten Königssalut abzufeuern.
    »Papa, hast du gewusst, dass Sarpsborg auf der Süd. . . ähh, der Südhalbkugel liegt?«
    Der Kommandant blieb stehen und runzelte die Stirn. »Wer sagt das?«
    »Bulle.«
    »Wer?«
    Sie deutete mit dem Finger. »Bulle . . .«, wollte sie sagen, aber sie sagte nichts, als sie sah, dass sie auf eine Stelle der Kanonenstraße zeigte, wo nur die Kanonenstraße war und sonst nichts, schon gar kein Bulle.

2 . Kapite l
Seekranke Ziegen
    ls Bulle hörte, wie Lises Vater, der Kommandant, sagte, sie müsse zur Schule, fiel ihm ein, dass er ja selbst auch zur Schule musste. Wo immer die auch sein mochte. Und wenn er jetzt ganz schnell war, dann konnte er frühstücken, seine Schultasche suchen und sich zur Not auch noch die Zähne putzen und doch noch mit jemandem mitgehen, der den Weg zu seiner neuen Schule schon kannte.
    Er wuselte zwischen den Beinen der Möbelpacker hindurch in das neue Haus. Da entdeckte er auf einem Umzugskarton im Flur seine Trompete. Er atmete erleichtert auf und schnappte sie sich. Bulle, seine Schwester und seine Mutter waren am Abend zuvor mit der ersten Ladung gekommen und seine einzige Sorge war, dass die Umzugsleute bloß nicht den Karton mit seiner Trompete vergaßen.
    Er legte die Lippen vorsichtig ans Mundstück.
    »Eine Trompete muss man küssen wie eine Frau«, hatte sein Großvater immer gesagt. Bulle hatte in seinem ganzen Leben noch keine Frau geküsst, jedenfalls nicht so, nicht mitten auf den Mund. In Wahrheit hoffte er auch, dass er das nie würde tun müssen. Er blies Luft in die Trompete. Sie blökte wie eine seekranke Ziege. Kaum ein Mensch hat je eine seekranke Ziege gehört, aber so klingt sie.
    Er hörte es an die Wand klopfen und wusste, das war seine Mutter, die noch nicht aufgestanden war. »Noch nicht, Bulle!«, rief sie. »Es ist erst acht. Wir schlafen.«
    Sie sagte immer »wir«, obwohl sie allein im Schlafzimmer war. Jetzt wollen »wir« schlafen, jetzt kochen »wir« uns eine schöne Tasse Kaffee. Als wäre Papa gar nicht weg, als hätte sie ihn immer noch da drinnen, in einer kleinen Schachtel, die sie manchmal hervorholte, wenn Bulle gerade nicht da war. Einen winzig kleinen
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