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Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Titel: Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Autoren: Norbert Klugmann
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Mengen Getreide aus magerem Boden holte und von Kartoffeln träumte, die die Schiffe aus Amerika heranschafften und die schneller in unbekannten Kanälen verschwanden als Bengtssons Bestechungsgelder ihre Wirkung entfalten konnten.
    Streng genommen hatte er seine Frau verlassen, aber weil nie die entscheidenden Worte ausgesprochen worden waren, hatte sie sich in einem Zwischenreich aus Hoffen und Bangen eingerichtet, aus dem sie nicht mehr herausfand. Ihr Personal war immer geringer geworden, die Apanage fiel immer dürftiger aus, die Freunde ließen sich verleugnen, und die jämmerliche Zahl der Einladungen ließ aus den Fürstinnenaugen Tränen fließen. Die Seele der armen Frau sah aus wie die Fassade ihres Herrenhauses: Es bröckelte überall.
    Boff verstand nun, warum er so prosaisch empfangen worden war. Die Frau war weder hochmütig noch geizig. Sie musste mit dem Pfennig rechnen.
    »Hier kommen wir mit Tropfen und Kräutern nicht weiter«, sagte er.
    »Wie wäre es mit einer Kugel aus Eisen. Ihr haltet das Gewehr und zielt, ich drücke ab?«
    »Das ist nicht Euer Ernst, aus Euren Worten spricht der Schalk.«
    »Meint Ihr den Schalk, der einem im Theater begegnet, vorausgesetzt, man findet einen Begleiter, der einem beim Theaterbesuch Gesellschaft leistet?«
    Er musste herauskriegen, wie viel von ihren Reden Selbstmitleid war und wie viel präzise Beschreibung eines verlorenen Lebens. Immer wieder kam sie auf fehlende Begleitung zu sprechen, nie hörte es sich an, als sei sie auf der Suche nach einem Mann, der sie aushielt, oder gar einer neuen Liaison. Die Frau musste schnellstens unter Menschen gebracht werden.
    Boff sagte: »Ich verordne Euch einen Brief. Ein Brief, den ich schreiben werde, nicht an Euch, und dessen Wirkung Ihr hoffentlich schnell spüren werdet.«
    »Ich verstehe kein Wort.«
    »Gebt mir eine Woche, dann werden wir wissen, ob die Medizin anschlägt.«
    Die Medizin, die ihm vorschwebte, war Geselligkeit. Man musste die Einsamkeit dieser armen Frau zertrümmern und sie mit Lebendigkeit konfrontieren. Und was konnte lebendiger sein als eine andere Frau?
    Auf der Rückfahrt machte er einen Umweg, Halle erreichte er zu zweit. Seine Begleiterin ließ er zwei Straßen entfernt absteigen. Sie fragte zwanzigmal nach dem Weg. Zuletzt rief Boff verzweifelt: »Welches Wort versteht Ihr nicht an: rechts, links, links?«
    Sie sah ihn an, als würde sie an ihm eine bisher unbekannte Schwäche entdecken, und schlurfte brummend davon. Einmal blieb sie noch stehen und knurrte: »Wenn ich mich verlaufe, werdet Ihr Euch das nie verzeihen.«
    Später am Tag würde Boff von Hermine erfahren, dass die alte Frau sich vor drei Dingen auf der Erde fürchtete: vor dem bissigen Ganter des Nachbarn, der sich für einen Wachhund hielt; vor der Hölle, falls dort keine Heilkräuter wachsen sollten; und vor Städten.
    Wie am Vortag hielten sich einige Dutzend Menschen vor dem Haus am Marktplatz auf. Ein Beobachter mochte sie für eine Ansammlung halten, die vom Zufall zusammengeführt worden war. Doch sie gingen erst nach Stunden auseinander. Bis dahin hatten sie sich gegenseitig ihre Beschwerden geschildert, und jeder hatte aus einer Fülle von Diagnosen die ihm am meisten zusagende ausgesucht.
    Eine Gestalt schleppte sich über den Platz heran. Diese Frau kam nicht aus Halle, sie ging langsam, hielt sich eine Hand auf die Brust und stieß abwechselnd Stöhnen und Husten aus. Dazu murmelte sie vor sich hin. »Der Doctor. Muss zum Doctor. Will noch leben. Muss sofort zum Doctor.«
    Sie schwankte, es sah aus, als würde sie fallen. Aber sie schleppte sich weiter, als sie zu schwach war, die Haustür zu öffnen, sprang eine Frau hinzu und hielt die Tür auf.
    Einige Minuten tauschte sich das Volk vor dem Haus über die Alte aus. An welchem Gebrechen sie wohl leiden mochte; ob sie sich erholen würde; wie alt sie sein mochte. Dann gewannen andere Themen die Oberhand, und als die Frau das Haus verließ, wunderten sie viele, denn sie hatten sie schon vergessen. Mit einem Schritt, für den es kein anderes Wort als »federnd« gab, bahnte sie sich den Weg durch die Menge. Verdutzt sah man ihr hinterher, wie sie den Marktplatz überquerte. Einen Moment noch war ihr Gemurmel zu hören. »Guter Mann, sehr guter Mann. Weckt Tote auf. Muss man sich merken, den Mann. Haben andere Städte nicht, arme Schweine das.«
    Zwei Minuten später stürmte die Menge die Praxis des Stadtphysicus Boff. Stine wurde weggefegt, die zehn
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