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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit
Autoren: George R. R. Martin
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zwischen zwei gewaltigen, felsigen Hügeln. Sogar hier lebten Shkeen, und die roten Ziegelsteinkuppeln erhoben sich überall aus dem Unterholz zwischen den kümmerlichen Bäumen. Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Höhle zu entdecken. Sie lag auf halber Höhe an der einen Hügelflanke, ein dunkles Gähnen in dem Felsen-Gesicht, und ein staubiger Pfad schlängelte sich zu ihr hinauf.
    Wir setzten im Tal auf und stiegen den Pfad hinauf. Gourlay marschierte mit großen, schlaksigen Schritten hinauf, während Valcarenghi sich mit unermüdlicher, leichter Geschmeidigkeit bewegte, und der Polizist stapfte gleichmütig dahin. Ich war der Nachzügler. Ich schleppte mich hinauf und war völlig außer Atem, als wir den Höhleneingang erreichten.
    Wenn ich Höhlenmalereien oder einen Altar oder eine Art natürlichen Tempel erwartet hätte, wäre ich sehr enttäuscht worden. Es war eine gewöhnliche Höhle mit nassen, feuchten Felswänden und niederen Decken und kalter, feuchter Luft. Kühler als irgendwo sonst auf Shkea und weniger staubig, aber das war alles. Ein langer, sich windender Gang führte durch den Fels, breit genug, daß wir vier nebeneinander gehen konnten, und doch so niedrig, daß Gourlay den Kopf einziehen mußte. Fackeln waren in regelmäßigen Abständen an den Wänden befestigt, aber nur etwa jede vierte war angezündet. Sie brannten mit einem öligen Rauch, der sich unter der Höhlendecke festzuhängen schien und langsam vor uns her in die Tiefe trieb. Ich fragte mich, was ihn einatmete.
    Nach einem Marsch von etwa zehn Minuten, den Großteil davon ein kaum merklich abwärts geneigtes Gefälle hinab, entließ uns der Gang in einen hohen, hell erleuchteten Raum mit einer weitgewölbten Steindecke, die vom Rauch der Fackeln rußig war. In dem Raum – der Greeshka.
    Seine Farbe war ein stumpfes Braunrot, wie geronnenes Blut, nicht das leuchtende, fast durchscheinende Purpur der kleinen Parasiten, die auf den Schädeln der Gebundenen saßen. Es gab auch Flecken von Schwärze – wie Brandmale oder Rußflecken – auf dem riesigen Gallertklumpen. Ich konnte die andere Seite der Höhle kaum sehen; der Greeshka war zu gewaltig, er wölbte sich vor uns auf, und zwischen ihm und der Decke blieb nur ein schmaler Spalt. Etwa in der Mitte des Felsendoms endete der Gallertleib in einer puddingartigen, schwabbeligen Flanke, knapp zwanzig Fuß von unserem Standort entfernt. Zwischen uns und dem Körper des Greeshka hing ein Dickicht aus schwankenden, roten Fasersträngen, ein lebendes Netzwerk aus Greeshka-Gewebe, das beinahe unsere Gesichter berührte.
    Und es pulsierte. Wie ein einziger Organismus. Auch die Stränge waren davon erfaßt, spannten sich an, erschlafften wieder, bewegten sich zu einem lautlosen Rhythmus, der eins war mit dem großen Greeshka hinter ihnen.
    Mein Magen drehte sich um, aber meine Begleiter wirkten ungerührt. Sie hatten das schon früher gesehen. „Kommt“, sagte Valcarenghi und knipste die Taschenlampe an, die er zur Verstärkung des Fackellichts mitgebracht hatte. Das Licht sickerte durch das pulsierende Netz, erweckte die Illusion eines fremdartigen, gespenstischen Waldes. Valcarenghi trat in diesen Wald hinein. Vorsichtig. Er schwenkte das Licht und wischte den Greeshka zur Seite.
    Gourlay folgte ihm, aber ich zuckte zurück. Valcarenghi sah zurück und lächelte. „Keine Sorge“, sagte er. „Der Greeshka braucht Stunden, bis er sich festgesaugt hat, und man kann die Fäden leicht entfernen. Er wird Sie nicht packen, nicht einmal, wenn Sie dagegen fallen.“
    Ich raffte meinen Mut zusammen, streckte die Hand aus und berührte einen der lebenden Fäden. Er war weich und feucht und fühlte sich schleimig an. Aber das war alles. Er zerriß leicht genug. Ich schritt hindurch, die Hände vorgestreckt, zerfetzte das Netz, um mir meinen Weg frei zu machen. Der Polizist kam schweigend hinter mir her.
    Dann standen wir auf der Innenseite des Netzes, am Fuß des riesigen Greeshka. Valcarenghi studierte ihn einige Herzschläge lang, dann zeigte er mit der Taschenlampe auf eine ganz bestimmte Stelle. „Sehen Sie“, sagte er. „Die Letzte Vereinigung.“
    Und ich sah hin. Sein Lichtstrahl produzierte einen hellen Kegel auf einem der dunklen Flecken, einem Makel auf der rötlichen Masse. Ich starrte genauer hin. Da war ein Kopf in dem Makel. Mitten in diesem dunklen Fleck; nur das Gesicht war noch zu sehen, und auch das war bereits mit einer dünnen roten Schicht überzogen. Aber die
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