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Die Zweierbeziehung

Die Zweierbeziehung

Titel: Die Zweierbeziehung
Autoren: Jürg Willi
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Liebesbeziehung aufzugeben. Diese stark defensive Grundhaltung führte so zur Entzauberung der romantischen Liebe.
    Doch dann, um die Jahrtausendwende, kam es in weiten Kreisen zu einer Wiederaufwertung von starken Emotionen im Verliebtsein. Man hatte den Eindruck, das Leben durch eine defensive Haltung zu verpassen. Man suchte sogar bedingungslose Hingabe in der Liebe, das Zulassen von Intensität und Bedingungslosigkeit, wie ich es in der Sehnsucht nach der absoluten Liebe beschrieben habe. Man suchte das Abenteuer hochemotionaler sexueller Beziehungen und nahm Abstand von der ängstlichen Kontrolle starker Gefühle. Mit dem Abflauen der revolutionären Autonomiebedürfnisse meldete sich die Liebe wieder zurück. Immer mehr Menschen hatten den Eindruck, dass das oftmals krampfhafte Bemühen nach Nüchternheit, Ausgleich und Gerechtigkeit die Gefahr mit sich brachte, das intensivste Erleben von Liebe zu verpassen. Es genügte nicht mehr, abzumessen, zu vergleichen und aufzurechnen, viele fühlten sich unerfüllt, einsam und unzufrieden. Manche sehnten sich im Grunde genau nach dem Sichsehnen, das sie unter dem Deckel ihrer ängstlichen Kontrolle zu halten versucht hatten – ein Sehnen nach der großen absoluten Liebe. Die Liebe sollte das eigene Leben aus der Mittelmäßigkeit herausheben, sie sollte ein Abenteuer, ein Risiko, eine Utopie sein, als Entwurf, der dem Leben Sinn, Ziel und Besonderheit zu geben vermag. Die Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen sollte in einer Welt, wo alles kontrolliert und gemessen wird, ihren Platz haben, es sollte einen Bereich geben, wo sich das Leben in seiner ganzen Dramatik entfalten kann. Diese Sehnsucht nach dem großen Abenteuer wird zwar meist schamhaft verborgen, ja viele können sie sich selbst nicht eingestehen. Manchen wurde dabei bewusst, dass sich Selbstverwirklichung nicht nur als Selbsterkenntnis und Bewusstwerdung ereignet, sondern durch die Verwirklichung des eigenen Potenzials in der selbstgeschaffenen Welt, von der man in seinem Wirken beantwortet werden möchte.

1.4. Die sexuelle Befreiung Sexuelle Befreiung
    Ein weiterer Schwerpunkt der kulturellen Veränderungen in den Nach-68er-Jahren ist die Gestaltung der sexuellen Beziehungen. Zuvor waren die sexuellen Beziehungen eingeengt durch vielfältige restriktive Normen und Verbote, für deren Einhaltung vor allem die Kirchen eintraten. Die Folge war, dass Sexualität nur schwerlich als ein Ausdruck von Liebe erlebt werden konnte und wenig Möglichkeiten bestanden, sie unbeschwert und freudvoll zu erfahren. Doch in den Nach-68er-Jahren setzten sich die jungen Erwachsenen über diese Vorschriften und Regeln hinweg und suchten eine spontane, ihrem Empfinden entsprechende sexuelle Erfahrung. Eine wichtige Voraussetzung dazu war die Pille, dank welcher sexuelle Beziehungen angstfreier erlebt werden konnten. Es setzte sich die Meinung durch, dass im Sexualleben alles erlaubt ist, was von beiden Partnern gewünscht wird. Eine allgemeingültige Norm war hinfällig geworden. Was im Sexuellen erlaubt ist, hatten die Partner selbst miteinander auszuhandeln. Sie mussten in alleiniger Verantwortung über Gut und Schlecht entscheiden. Insbesondere die katholische Kirche konnte ihre einengenden Regeln der «natürlichen» Antikonzeption in der Praxis nicht mehr durchsetzen. Aber auch die in vielen westlichen Staaten anerkannte Fristenlösung veränderte die Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch. Erstaunlich und unerwartet war, dass es nicht zu einem Dammbruch von Abtreibungen kam. Vielmehr hatten viele Frauen, solange der Schwangerschaftsabbruch verboten war, alles darangesetzt, diesen durchzusetzen. Aber in dem Ausmaß, wie sie die Verantwortung für den Entscheid zum Schwangerschaftsabbruch selbst übernehmen mussten, wurden sie wesentlich zurückhaltender, sodass sich heute nur eine geringe Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen feststellen lässt. Bei vielen Frauen setzt sich der Einstellungswandel vor allem nach einem Schwangerschaftsabbruch durch. Ein Schwangerschaftsabbruch ist eine belastende Erfahrung, die keine Frau gern wiederholen möchte.
    Sexuelle Beziehungen konnten jetzt als uneingeschränkte Lust gelebt werden. Sex wurde nicht mehr notwendigerweise mit Liebe Verliebtsein und Partnerschaft gekoppelt, sondern bemaß seinen Wert in der Intensität der Lusterfahrung. Um dies zu erleben, eigneten sich Beziehungen, die sich nur als sexuelles Angebot definierten, für viele Konsumenten eher als eine Beziehung, bei
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