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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Autoren: Luca Tarenzi
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Aufmerksamkeit widmen. Mir blieben nur wenige Augenblicke.
    Ich stieß die Worte hervor, die mich der Mann mit den Schlangenaugen gelehrt hatte, die uralte Beschwörungsformel, die einst auf Griechisch gesprochen wurde, in Latein, in Etruskisch oder einer der Sprachen, die nur das prähistorische Italien kannte. Ich rief den Erebus an, die Nacht, das Chaos und die unkontrollierten Kräfte, die an den Ursprüngen der Welt existierten. Ich rief ihnen zu, zu lauschen, zu gehorchen, sich dem Willen des Menschen zu beugen, der ihnen einen Namen und eine Form gegeben hatte.
    Das Heulen des Sturms und die Schreie der beiden Kämpfenden rückten weit in die Ferne, das Bild der Baustelle löste sich auf in eine Wolke aus Schatten, und einen Moment später stürzte ich in die Tiefe.
    Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Erde, auf einem Untergrund aus Gras und knolligen Wurzeln. Ich spürte keinen Schmerz mehr. Ich hob den Kopf und sah mich um: nirgends eine Spur vom Eisenhut, nur Gras. Vorsichtig kniete ich mich hin und stand auf.
    Ich stand am Rand eines Abgrunds: Das Gelände endete nur wenige Schritte von mir entfernt im Nichts. Der nächtliche Himmel war wolkenlos, er wurde von Tausenden von Sternen erhellt und dem größten Vollmond, den ich je gesehen hatte. Hinter mir lag ein dichter, schwarzer, undurchdringlicher Wald; und vor mir, jenseits des Abgrunds, bot sich ein so unglaubliches Panorama dar, das mir geradezu der Atem stockte: eine endlose Weite aus wogenden Wäldern, die im Mondlicht funkelten und am Horizont von einer Bergkette gekrönt wurden.
    Ich konnte meinen Blick kaum von diesem Schauspiel lösen. Und instinktiv wusste ich, was für eine Welt das war: die Welt vor Ankunft der Menschen. Die Welt, die nur den Geistern und den Wölfen gehörte.
    Ein Rascheln veranlasste mich, den Kopf zu wenden: Zwei Meter von mir entfernt kauerte ein Mädchen am Rand des Abgrunds, die Augen auf den Horizont gerichtet, die Haut bleich glänzend im Mond. Ein zierliches Mädchen mit einer schwarzen, weiten Hose und einem Shirt in derselben Farbe. Ich erkannte die Kleider, noch bevor ich die kurzen, widerspenstigen Haare erkannte, die Lippen, den Schnitt der Augen.
    Das Mädchen da vor mir war Veronica Meis.
    Als hätte sie meinen Blick gespürt, wandte die Erscheinung sich um, ohne ihre seltsam kauernde Position aufzugeben, und zum ersten Mal sah ich den Wolf . Ich sah das, was all jene in meinen Augen gesehen hatten, wenn ich der Verführung des Augenblicks folgend in meinem Körper den Traum des Gottes der Wälder gelebt hatte.
    Er war wie ein riesiger Schatten, eine unberührbare Maske – nichts, was sofort ins Auge sprang, sondern das in einem entlegenen Winkel des Gehirns rein instinktiv als Raubtier erkannt wurde. Ich registrierte ein ungewöhnliches Licht in seinen Augen – meinen Augen –, ein strahlend weißes Blitzen der Zähne zwischen den halb geöffneten Lippen, eine übernatürliche Anmut in der Spannung der Halsmuskeln unter der Haut.
    Das war ich , und gleichzeitig war ich etwas anderes. Etwas Fremdartiges, absolut Unmenschliches. Etwas Wildes.
    Ich fühlte mich, wie sich jemand fühlt, der von einem Gott angestarrt wird.
    Die Erscheinung bewegte die Lippen, während der Rest unbeweglich blieb. » Warum bist du hier ?«
    War das wirklich meine Stimme? Ich erkannte sie nicht.
    Mit der ganzen Kraft, die mir noch geblieben war, antwortete ich: »Ich habe dich gesucht.«
    » Du und ich, wir sind vereint. Warum suchst du etwas, das du schon besitzt ?«
    »Ich wollte mit dir sprechen. Von Angesicht zu Angesicht.«
    Die Gestalt erhob sich und wandte sich mir zu, in einer einzigen fließenden Bewegung. » Ich habe deinen Ruf gehört. Du hast meinen Namen durch das Nichts gerufen. Du hast die Kräfte gerufen, die mich und alle, die sind wie ich, am Beginn der Zeiten hervorgebracht haben .«
    Ich schluckte. »Ja.«
    » Was willst du von mir? Was willst du, das ich dir nicht schon gegeben hätte ?«
    »Ich will, dass du gehst.«
    Die Augen des Geschöpfs sandten einen Blitz aus. Ich spürte ihn, noch bevor ich ihn sah.
    » Das ist nicht möglich .«
    Ich ballte die Fäuste. »Das ist es doch! Du bist mächtig. Wie du von mir Besitz ergriffen hast, so kannst du auch von mir lassen. Ich will, dass du dorthin zurückkehrst, wo du hergekommen bist.«
    Ich sah ihn durch die Luft blitzen. Ich wüsste nicht, wie ich seine Bewegung sonst beschreiben könnte. Er durchquerte den Raum, der zwischen uns lag, in einem
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