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Die Zwanziger Jahre (German Edition)

Die Zwanziger Jahre (German Edition)

Titel: Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Autoren: Theo Zwanziger
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Abitur keine Probleme mehr. Ich habe gewiss meine Möglichkeiten damals nicht ganz ausgeschöpft, war bei Weitem nicht der Beste in der Klasse. Aber die Schulnoten wurden damals nicht so dramatisch gesehen wie heute; die Noten bewegten sich meist zwischen zwei und vier, ein Einser-Abitur war in den frühen Sechzigerjahren völlig undenkbar. Das war aber auch nicht nötig; es gab keinen Numerus clausus, keine Abiturientenschwemme und genug attraktive Arbeitsplätze für Absolventen des Gymnasiums. Wer Abitur hatte, dem standen alle Türen offen.
    Neben dem Fußball galt meine Leidenschaft dem Lesen. Mit den Fußballbüchern von Fritz Walter und Sammy Drechsels »Elf Freunde müsst ihr sein« hat es begonnen, später habe ich alle Bände von Karl May verschlungen. Winnetou, Old Shatterhand, Kara ben Nemsi waren meine Begleiter in der Jugend. Und das hat mir sogar mal in der Schule geholfen.
    Es war im Erdkundeunterricht, ich stand vor der Weltkarte und hatte nicht die geringste Ahnung, wo Mekka lag. Der Lehrer hatte den Bleistift schon gezückt, dann sah er meine Verzweiflung und fragte: »Du liest doch Karl May? Du kannst dich von der Sechs auf eine Fünf verbessern, wenn du mir den vollen Namen von Hadschi Halef Omar sagen kannst.« Meine Miene hellte sich auf, und ohne nachzudenken ratterte ich los: »Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.« Er gab mir die versprochene Fünf, und ich kehrte unter dem Gelächter meiner Mitschüler auf meinen Platz zurück. Bisweilen zahlt es sich eben aus, wenn man belesen ist.
    Als Jugendlicher knatterte ich mit einem Moped durch die Gegend, auf dem Sozius Inge, die Nachbarstochter, mit der ich schon als Dreijähriger im Sandkasten gespielt hatte. Wir trafen uns am erwähnten Milchbock oder bei den Fastnachtsfeten an der Sektbar in der Lahnblickhalle. Wir wussten früh, dass wir zusammenbleiben, und Inge, mit der ich jetzt seit sechsundvierzig Jahren glücklich verheiratet bin, hat großen Anteil daran, dass wir nie aus Altendiez weggezogen sind. Hier ist unsere Heimat, wir kennen die Menschen und die Umgebung, die schönsten Wege zum Spazierengehen oder Fahrradfahren. Ich bin stolz auf mein Leben in der sogenannten Provinz mit ihren menschlichen Bindungen. Es gibt ja nicht nur Freiheit, wie unser neuer Bundespräsident sagt, sondern auch Solidarität und Gemeinschaftsgefühl. Heimat hat etwas mit Wohlfühlen zu tun.
    Vielleicht würde ich das anders beurteilen, wenn ich nie aus Altendiez herausgekommen wäre. Ich war und bin häufig unterwegs, ich habe viel gesehen von der Welt, aber ich bin immer froh, wenn ich wieder nach Hause komme. Man kann mir kaum Schlimmeres antun, als mich in einer Hotelsuite unterzubringen, wie es manchmal bei Länderspielen geschieht.
    Meine Sehnsucht nach dem eigenen Bett hat mir sogar einmal eine Übernachtung auf der Autobahn beschert. Auf dem Rückflug von einer Israel-Reise bekamen wir im Schneechaos in Frankfurt als eines der wenigen Flugzeuge die Landeerlaubnis. Ich dachte, wenn wir so viel Glück haben, werden wir auch den kurzen Heimweg nach Altendiez – unter normalen Bedingungen eine gute halbe Stunde – noch schaffen, obwohl wir Vorkehrungen getroffen hatten, notfalls in Frankfurt übernachten zu können. Zwischen Medenbach und Niedernhausen war auf der schnee- und eisglatten Autobahn aber endgültig Schluss, erst am nächsten Morgen kamen wir nach Hause. Da habe ich zum ersten Mal den Fernseher im Auto benutzt und dreimal hintereinander »Pretty Woman« gesehen. Auch solche Erlebnisse bilden.
    Im September 2011 kamen Philipp Lahm, Manuel Neuer, Mesut Özil, André Schürrle und Mats Hummels mit Bundestrainer Joachim Löw und Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff zum 100. Geburtstag des VfL Altendiez in mein Heimatdorf. Die Gelegenheit war günstig, zwei Tage zuvor hatte die Nationalmannschaft mit dem 6:2 gegen Österreich in Gelsenkirchen die EM -Qualifikation perfekt gemacht, zwei Tage später trug sie ein Freundschaftsspiel in Danzig aus. Dazwischen logierte sie in Düsseldorf, und von dort ist es nach Altendiez nicht weit. Für Bierhoff und Löw war die Stippvisite beim Heimatverein des DFB -Präsidenten Ehrensache, auch wenn ich von meiner ursprünglichen Idee, die Nationalmannschaft gegen eine Kreisauswahl antreten zu lassen, schnell wieder Abstand nahm.
    Festtag in Altendiez: Besuch der Nationalspieler zum 100. Geburtstag des VfL (©Privat).
    Denn wir erinnerten uns alle nur zu gut, wie sich
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