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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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stand, sondern in der Ecke nahe der Tafel am Ende des Raumes, sah er ihn. Lehrer Donner saß auf einem Stuhl beim Pult, dem mit den bequemen Armlehnen, der eigentlich hochstehenden Besuchern wie den Mitgliedern des Scholarchats bei ihren Visiten zur Prüfung der Schüler vorbehalten war. Auf diesen Stuhl hatte er sich gesetzt, um – wer hätte das ausgerechnet ihm zugetraut, der schon zu dienern begann, wenn er einen der Scholarchen nur von ferne sah – einen Mittagsschlaf zu halten. Er schnarchte zwar nicht, aber Niklas glaubte doch so etwas wie ein Atmen zu hören. Daß es Simons Feind war, der da auf dem Lehnstuhl saß, tatsächlich mehr hing als saß, erkannte er sofort, auch wenn der ihm den Rücken zudrehte und das Gesicht, bleich und spitznasig wie immer, nur im Halbprofil zu sehen war.
    Niklas fragte sich, wie jemand auch noch die Mittagspause in der Schule verbringen konnte, aber nun war nicht der Moment, darüber nachzudenken. Leise schlich er zurück zur Tür, rückwärts, um den Schlafenden nicht aus den Augen zu lassen, und just als er sie erreicht hatte, erschreckte ihn ein klirrendes Scheppern. Donners Taschenuhr war zu Boden gefallen und aufgesprungen, das Zifferblatt und eine ganze Anzahl winziger Rädchen kullerten über die geölten Dielen. Aber das sah Niklas nur noch im Davonhasten. Bevor Donner erwachen und ihn doch noch erwischen konnte, war er schon in den nächsten Raum geflitzt, nun wirklich den der Tertia, und, die Lateingrammatik unter dem Arm, zurück in den Hof, durch den Flur des Gymnasiums zum Portal und hinaus in die Sonne gerannt.

2. KAPITEL
     
    DONNERSTAG, DEN 4. AUGUSTUS,
    MITTAGS
     
    »Grandios! Sag endlich etwas, Helena. Es ist doch wirklich ein sehr schönes Theater. Natürlich muß man dies und jenes ein wenig ausbessern, hier ein paar Nägel, dort ein neues Brett, ein wenig frische Farbe vielleicht, doch das sind nur Kleinigkeiten. Und so können wir die Bühne auch ganz nach unserem Geschmack einrichten. Helena!«
    Jean Becker, Schauspieler, Sänger und bei Bedarf auch Tänzer, vor allem aber Prinzipal der Beckerschen Komödiantengesellschaft, stand in der Mitte eines langgestreckten staubigen Raumes, die Arme weit ausgebreitet, das Gesicht zum Himmel, besser gesagt zum nicht mehr ganz dichten Dach erhoben, und bemühte sich um eine zuversichtliche Miene. Er sah seine Frau an, wie Zeus im Schäferspiel seine Hera ansehen mochte, wenn er sich wieder einmal schlecht benommen hatte, obwohl davon diesmal wirklich keine Rede sein konnte. Nein, diesmal hatte er nur einen Mietvertrag für ein Theater abgeschlossen, das offensichtlich nicht Helenas Vorstellungen entsprach. Natürlich, das kleine Komödienhaus am Dragonerstall, wie es von den Hamburgern nach Größe und Standort im Gegensatz zu dem großen Nationaltheater beim Gänsemarkt genannt wurde, war ziemlich alt. Aber war die St.-Petri-Kirche etwa nicht alt? Ja, es war auch staubig und nicht in bestem Zustand, aber es war doch ein Theater und mindestens doppelt so groß wie die Komödienbude im Krögerschen Hof an der Neustädter Fuhlentwiete, in der sie bei früheren Gastspielen aufgetreten waren. Die hatten sie auch jedesmal neu herrichten müssen. So war das eben.
    Helena, dachte Jean, war verwöhnt. In den letzten Jahren hatten die Beckerschen viel Erfolg gehabt, sie mußten nun nicht mehr auf Märkten und Dorfplätzen eine eilige Bretterbude aufschlagen, sie konnten sich leisten, nur noch in größeren Städten aufzutreten. In vielen dieser Städte waren mittlerweile Bühnen in festen Häusern entstanden, die wandernde Komödianten, Operisten, Puppenspieler oder Akrobaten mieten konnten. Bei Licht besehen oft auch nicht viel mehr als hölzerne Buden, aber doch mit einem ordentlichen Fundament, so daß die Bühne nicht gleich gefährlich schwankte, wenn das Ballett begann.
    Klapprig oder nicht, hier war schon der bedeutende Koch mit seiner Gesellschaft aufgetreten, hier hatten die Brüder Mingotti große Opern gegeben, ein solches Haus sollte auch für die Beckerschen gut genug sein. Es stimmte schon, das Theater sah immer noch nach einem Stall aus. Aber hatte die wahre Kunst nicht überall ihren Raum? War nicht gar unser Herr Jesus Christ in einem Stall geboren? Dieser Gedanke beflügelte Jean, der schon seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen hatte, ganz außerordentlich, doch nach einem Blick auf das Gesicht seiner Frau war er klug genug, ihn für sich zu behalten.
    »Helena! Sag endlich was.«
    Die spitzte
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