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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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diesem elenden Sumpf stecken geblieben sind, verloren, weil sie die Wirklichkeit nicht ertragen konnten. Es ist schwer, das Leben, so wie es ist, auszuhalten. Ich wäre vielleicht denselben Weg gegangen, wenn ich nicht erkannt hätte, dass ich mein eigenes Trauma nur dann würde besiegen können, wenn ich mich damit auseinandersetzte.
    *
    Um fünf Uhr morgens brach ich gemeinsam mit meinem Anwalt nach Dresden auf. Sieben Stunden Fahrt. Ich sprach nur wenig. Meine Gedanken kreisten um meine Familie. Ich wusste, dass die Gegenseite sämtliche Protokolle einsehen konnte. Jens war entsetzt gewesen, dass nicht nur mein Name, sondern auch meine Anschrift ungeschwärzt zu sehen waren. »Zeugenschutz?«, hatte der Oberstaatsanwalt gefragt, »wozu das denn?« Abgelehnt, auch in Trixis Fall. Hätten sie dem stattgegeben, wäre das ein offizielles Eingeständnis gewesen, dass wir uns mit unseren Aussagen einer gewissen Gefahr aussetzten. Anonymität gab es nicht mehr, die Staatsanwaltschaft selbst hatte sie aufgehoben. Die Angst war sofort wieder da. Wenn ein Auto langsam an mir vorbeirollte oder jemand länger hinter mir herging, geriet ich in Panik. Kein Wort zu den Bullen. An dem Tag, an dem du mich wiedererkennst, bist du tot! Ich hatte ihn wiedererkannt. Seine Worte haben sich in meine Seele gebrannt, ebenso sein Gesicht. Klick. Klick. Die Vorstellung, dass sie meinen Kindern etwas antun könnten, machte mich an manchen Tagen fast wahnsinnig.
    Wir kamen auf den letzten Drücker in Dresden an, es blieb kaum Zeit, um zu verschnaufen. Nur für eine hastige Zigarette reichte es noch. Seit dem Treffen mit Arndt und Thomas hatte ich wieder damit angefangen. Während wir vor dem Eingang des Gebäudes standen, sah ich Trixi, die mich weder grüßte noch Notiz von mir nahm. Selbst als ihre Anwältin zu uns kam, um sich vorzustellen. Trixi sollte, wie schon beim ersten Mal, parallel zu mir vernommen werden. Ob sie etwas ausgesagt hatte und wenn ja, was, erfuhr ich erst viel später.
    Ich war nervös, hatte Angst, während der Befragung einen Zusammenbruch zu erleiden. Angst davor, dass mich die Bilder und Erinnerungen überwältigen würden, dass ich den Bezug zum Hier und Jetzt verlieren könnte. Aber es ist erstaunlich, was ein Mensch alles aushalten kann, welche ungeahnten Ressourcen wir in extremen Stresssituationen mobilisieren können. Gefühle erreichen einen dann nicht mit so einer Heftigkeit, sie sind eher eingefroren, bleiben zurück, während der starke Teil unseres Ichs die nächsten Schritte geht. Erst hinterher kommt das zerbrechliche, hilflose Ich mit aller Kraft zurück, lähmt einen, dominiert alles.
    Oh Lilith, in einer meiner schwersten Stunden hieltst Du meinen gebrochenen Körper, während Du meine Seele streicheltest. Wie könnte ich je ohne Dich leben.
    Diese Zeilen schrieb ich vor vielen, vielen Jahren, ohne mir ihrer Bedeutung ganz bewusst zu sein. Zwei Teile, die zusammengehören und ein Ganzes bilden. Mein Ganzes, das ich lange nicht erkennen konnte. Abspalten, ausgrenzen, wegdrücken. Erst heute bin ich vielleicht so weit, dass ich akzeptieren kann, dass es beide Teile in mir gibt und dass sie nicht länger miteinander kämpfen müssen.
    Nachdem wir das Vernehmungszimmer betreten hatten, wollte ich mich, wie ich das seit Jahren tue, auf einen Stuhl an der Wand setzen. Ich fühle mich sicherer, wenn ich alles im Blick habe, sich niemand von hinten nähern kann. Noch bevor ich Platz nehmen konnte, sagte der Oberstaatsanwalt: »Setzen Sie sich doch bitte zwischen uns.« Es klang weniger wie eine Bitte als wie ein Befehl. Ich verspürte ein leichtes Unbehagen, fügte mich aber. Er erklärte, dass er die Befragung dieses Mal auf Tonband aufnehmen würde. Dann zog er seinen Stuhl ganz dicht an meinen heran und setzte sich. Ich kann Nähe nur schwer ertragen, das Gefühl der Einengung noch weniger. Ich fühlte mich regelrecht eingequetscht, in die Ecke gedrängt, bewegungsunfähig.
    In diesem Moment dachte ich zum ersten Mal, dass dies eine andere Befragung werden würde als die vergangene. Es war wie ein Verhör, als stünde ich hier unter Anklage.
    Noch einmal ging es um die Vernehmung am See. Die beiden Beamten hätten ausgesagt, mir nur eine Mappe mit Bildern gezeigt zu haben. Ich beharrte erneut darauf, dass es drei gewesen seien. Er entgegnete mir scharf: »Wem würde man wohl mehr glauben – zwei ehrenwerten Polizeibeamten oder einer Ex-Prostituierten?« Ich war fassungslos, beharrte aber auf meiner
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