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Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman

Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman

Titel: Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
Autoren: Blanca Busquets
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so etwas auch noch nicht in irgendwelchen Zeitschriften oder gar im Fernsehen zu sehen. Und außerdem war es damals den Nonnen strengstens verboten, einen Ellbogen und erst recht das, was darüber lag, zu betrachten. Jedes Mal, wenn Dolors in den Ferien nach Hause kam, musste das Dienstmädchen sie am ganzen Körper als Erstes ordentlich abschrubben, denn im Internat durfte man sich oberhalb des Ellbogens noch nicht einmal waschen! Ein Unterschied wie Tag und Nacht, außen weiß und innen kohlrabenschwarz: Was müssen wir alle gestunken haben, sagt sich Dolors jetzt, und wie sittsam und prüde wir waren.
    Mittlerweile war man von einem Extrem ins andere gefallen. Was wohl passiert wäre, wenn sie sich als junges Mädchen so gekleidet hätte wie Sandra? Was hätte die Nonne mit dem Apfel und dem Wurm wohl dazu gesagt? Nicht auszudenken!
    Maria Dolors!, hätte sie gebrüllt, denn im Internat hatte man sie natürlich immer mit ihrem kompletten Namen gerufen, den sie von klein auf hasste, aber erst viele Jahrzehnte später mit Teresas Unterstützung zu Dolors verkürzen konnte. Zur Direktorin! Auf der Stelle! Und dann hätten die Nonnen mit Sicherheit schnurstracks Dolors’ Familie benachrichtigt und Dolors im Internat als abschreckendes Beispiel für ein gefallenes Mädchen hingestellt. Vielleicht wäre sie zur Strafe sogar in den Schlafsaal für die mittellosen Schülerinnen verbannt worden, die für ihren Unterhalt nähen mussten und den reicheren Oberschülerinnen das Essen servierten. Es hätte wirklich alles Möglichegeschehen können, wenn sie sich vor der Nonne mit dem Apfel – wie hatte sie bloß geheißen   …? – in einem dieser knappen Tops präsentiert hätte, wie Sandra sie heute ungestraft trägt.
    Neulich hatte sich die Kleine allerdings ein paar Tage lang gut eingemummelt und einen dicken, allerdings gekauften Pullover getragen, weil sie sich eine Bronchitis eingefangen hatte. Leonor war von dem vielen Schelten stockheiser geworden. Vor Dolors hatte sie Sandra zur Minna gemacht, sie hatte nicht einmal gemerkt, dass ihre alte Mutter mithörte. Aber es bemerkt ohnehin nie einer, dass die Großmutter im Raum ist, sie gehört quasi zum Inventar. Dolors seufzt, ihre Miene hellt sich aber sogleich wieder auf. Natürlich ist es traurig, dass einem keiner Beachtung schenkt, doch andererseits erfährt sie so einiges, das dem Rest der Familie verborgen bleibt. Es hat eben alles sein Gutes, ganz gleich, wie schlecht es einem sonst gehen mochte, und Dolors hat nun schon etliches mitbekommen, seit sie bei ihrer Tochter wohnt, und Dinge beobachtet, über die sie einen ganzen Roman schreiben könnte   …
    An jenem Tag etwa, als Leonor Sandra heruntermachte, weil diese die Bronchitis bestimmt nur wegen der nabelfreien Tops bekommen hatte, da hätte sie ihrer Tochter liebend gern gesagt, sie solle es mit dem Gezeter gut sein lassen und sich lieber darum kümmern, dass Sandra sich besser ernährt. Das Kind isst nämlich wie ein Spatz. Doch was das betrifft, ist Leonor anscheinend wie mit Blindheit geschlagen. Da sie weder mittags noch abends zusammen essen und sich am Wochenende sogar noch seltener sehen, weil Sandra jede Gelegenheit nutzt, sich zu der einen oder anderen Freundin zu flüchten, fällt ihr nicht auf, dass SandrasHemdchen ihr bereits um den Körper schlottern und sie bald keinen Gürtel mehr findet, den sie noch enger schnallen kann, damit die Hosen nicht rutschen.
    Von ihrem Sessel aus beobachtet Dolors des Öfteren, wie Sandra sich erst von der Seite und dann von vorn im Flurspiegel betrachtet und schließlich noch einen angewiderten Blick auf ihren Hintern wirft. Dabei hat sie gar keinen Hintern, sie besteht ja fast nur noch aus Haut und Knochen! Dolors seufzt. Wie sich die Dinge mit der Zeit doch ändern: Das mit der guten Figur hing offenbar davon ab, ob gerade fette oder magere Jahre herrschten. Zu Zeiten der Nonne, des Apfels und des Wurms sah eine Frau gut aus, wenn sie drall war und volle Wangen hatte. Sie war schön, weil sie viel essen konnte, während alle anderen hungern mussten. Heutzutage war es genau umgekehrt: Da sich jeder nun den Teller vollladen konnte, hatte man sich zurückzuhalten, wollte man dem gängigen Schönheitsideal entsprechen.
    Abgespannt, wie sie ist, merkt Leonor jedenfalls nichts von Sandras Problemen. Und Jofre   … ach Gott, Jofre ist eben Jofre. Ein geborener Weltverbesserer, der gern große Reden schwingt, die keiner versteht. Im Grunde genommen ist er genauso,
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