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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten
Autoren: Jonathan Littell
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Fassade, in einen Trümmerhaufen. Meine Ohren dröhnten noch von dem Feuerstoß des Franzosen. Ich lief in Richtung Brandenburger Tor. Ich musste unbedingt aus der Stadt hinaus, sie war zu einer monströsen Falle geworden. Meine Informationen waren schon einen Tag alt, aber ich wusste, dass nur noch ein Weg offen war: durch den Tiergarten, dann über die Ost-West-Achse bis zum Adolf-Hitler-Platz; von dort musste ich weitersehen. Am Tag zuvor war dieser Teil der Stadt noch nicht geschlossen gewesen, Hitlerjungen hielten die Brücke über die Havel, Wannsee war in unserer Hand. Wenn ich es bis zu Thomas schaffe, sagte ich mir, bin ich gerettet. Der Pariser Platz vor dem noch relativ unbeschädigten Brandenburger Tor war mit umgestürzten, zerfetzten, verbrannten Fahrzeugen übersät; die verkohlten Leichen in den Krankenwagen trugen an den Extremitäten noch ihre feuerbeständigen weißen Gipsmanschetten. Ich hörte ein gewaltiges Dröhnen: Ein russischer Panzer schob hinter mir die Fahrzeugwracks beiseite; mehrere Waffen-SS-Männer hockten darauf, sie mussten ihn erbeutet haben. Er hielt direkt neben mir, schoss, setzte sich dann mit rasselnden Ketten wieder in Bewegung; einer der Waffen-SS-Männer musterte mich gleichmütig. Der Panzer bog nach rechts in die Wilhelmstraße und verschwand. Etwas weiter, Unter den Linden, erblickte ich im Rauch zwischen den Laternenpfählen und den Reihen der Baumstümpfe eine menschliche Gestalt, einen Zivilisten mit Hut. Ich begann wieder zu laufen, lavierte mich zwischen den Hindernissen durch, durchquerte das rauchgeschwärzte Brandenburger Tor, das mit den Narben von Kugeln und Granatsplittern überzogen war.
    Dahinter lag der Tiergarten. Ich verließ die Straße und lief zwischen den Bäumen weiter. Vom Heulen der vorbeifliegenden Werfergranaten und den fernen Einschlägen abgesehen, herrschte im Park eine befremdliche Stille. Die Nebelkrähen, die den Park sonst mit ihrem rauen Gekrächze erfüllten, waren vor dem Dauerbeschuss geflohen und hatten sicherere Orte aufgesucht: keine Sperrkommandos und keine fliegenden Standgerichte für die Vögel am Himmel, was für ein Glück sie haben – und sie wissen es noch nicht einmal. Zwischen den Bäumen lagen zusammengekrümmte Leichen, und an den Bäumen, zu beiden Seiten der Wege, schaukelten makaber die Erhängten. Es begann wieder zu regnen, ein Nieseln nur, durch das noch die Sonne drang. Die Büsche in den Beeten blühten, der Duft der Rosensträucher mischte sich mit dem Leichengeruch. Von Zeit zu Zeit wandte ich mich um: Zwischen den Bäumen meinte ich die Silhouette zu erblicken, die mir folgte. Ein toter Soldat hielt noch immer seine Schmeisser umklammert; ich nahm sie, richtete sie auf die Silhouette und zog den Abzug durch; aber die Waffe klemmte, und ich warf sie wütend in einen Busch. Eigentlich hatte ich mich nicht zu weit von der Hauptstraße entfernen wollen, aber ich sah dort Bewegung und Fahrzeuge, daher ging ich tiefer in den Park hinein. Zu meiner Rechten überragte die Siegessäule immer noch unerschütterlich die Bäume, verborgen unter ihrer Schutzkonstruktion. Vor mir versperrten mehrere Wasserflächen den Weg: Doch statt mich wieder der Straße zu nähern, beschloss ich, sie in Richtung des Kanals zu umgehen, dort, wo ich mich einst, vor langer Zeit, nächtens auf der Suche nach Lust und Vergnügen herumgetrieben hatte. Von dort aus, sagte ich mir, könnte ich eine Abkürzung durch den Zoo nehmen, um in Charlottenburg unterzutauchen. Ich überquerte den Kanal auf der Brücke, auf der ich eines Abends die merkwürdige Auseinandersetzung mit Hans P. gehabt hatte. Auf der anderen Seite wardie Zoomauer an mehreren Stellen eingestürzt, und ich kletterte über die Trümmer. Aus der Richtung des großen Zoo-Bunkers hörte man heftiges Schießen, leichtes Geschützund Maschinengewehrfeuer.
    Dieser Teil des Zoos war vollkommen überschwemmt: Der Beschuss hatte das Aquarium ausgeweidet, und die einzelnen zerplatzten Becken hatten ihre Inhalte in die ganze Umgebung ausgeschüttet, Tonnen von Wasser verströmt, tote Fische, Langusten, Krokodile, Quallen auf den Wegen verstreut; ein schwer atmender Delfin betrachtete mich beunruhigt mit einem Auge, auf der Seite liegend. Durch das Wasser platschend, lief ich weiter, um die Pavianinsel herum, wo die Kleinen sich mit winzigen Händen an den Bäuchen ihrer verstörten Mütter festklammerten, vorbei an Papageien, toten Menschenaffen, einer Giraffe, deren langer Hals über
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