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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten
Autoren: Jonathan Littell
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sie hat die Kranken lediglich entkleidet und beruhigt, die üblichen Handreichungen ihrer Zunft. Auch der Arzt hat nicht getötet, sondern lediglich eine Diagnose nach Kriterien bestätigt, die von anderen Instanzen vorgegeben waren. Der Hilfsarbeiter, der den Gashahn aufdreht, der Mann also, der in Zeit und Raum dem Mord am nächsten kommt, führt unter der Aufsicht seiner Vorgesetzten und der Ärzte eine bestimmte Verrichtung aus. Die Arbeiter, welche die Kammer säubern, genügen damit einer hygienischen Pflicht, einer höchst abstoßenden noch dazu. Der Polizist nimmt eine Amtshandlung vor, wenn er den Tod beurkundet und anmerkt, dass er ohne Verstoß gegen geltendes Recht eingetreten ist. Wer ist also schuldig? Alle oder niemand? Warum sollte der an den Gashahn gestellte Arbeiter größere Schuld auf sich laden als der Arbeiter, der für die Heizung, den Garten oder die Fahrzeuge zuständig ist? Das gilt für alle Aspekte dieses ungeheuren Unternehmens. Ist beispielsweise der Weichensteller bei der Eisenbahn schuld am Tod der Juden, die er über seine Weichen zum Lager geleitet hat? Dieser Weichensteller ist ein Bahnbeamter, seit zwanzig Jahren macht er die gleiche Arbeit, er stellt seine Weichen nach festen Plänen, er muss nicht wissen, was in den Zügen ist. Es ist nicht seine Schuld, wenn diese Juden durch sein Weichenstellen von einem Punkt A zu einemPunkt B befördert werden, wo man sie tötet. Trotzdem spielt dieser Weichensteller eine entscheidende Rolle im Vernichtungswerk. Ohne ihn könnte der Zug mit den Juden nicht zum Punkt B gelangen. Gleiches gilt für den Beamten, der die Aufgabe hat, Wohnungen für ausgebombte Volksgenossen zu requirieren, den Drucker, der die Deportationsbescheide druckt, den Lieferanten, der Beton oder Stacheldraht an die SS verkauft, den Unteroffizier von der Standortverwaltung, der ein Teilkommando der Sipo mit Benzin beliefert, und den lieben Gott dort droben, der das alles zulässt. Gewiss, man kann verschiedene Ebenen strafrechtlicher Verantwortung relativ exakt festlegen, sodass es möglich ist, einige zu verurteilen und alle anderen ihrem Gewissen zu überlassen, so sie denn eines haben; das ist umso leichter, wenn man, wie in Nürnberg, die Gesetze im Nachhinein macht. Doch selbst dort ist man mit einer gewissen Beliebigkeit vorgegangen. Warum hat man Streicher gehängt, diesen machtlosen Bauernlümmel, und nicht den elenden Lumpen Bach-Zelewski? Warum hat man meinen Vorgesetzten Rudolf Brandt gehängt und nicht dessen Vorgesetzten Wolff? Warum hat man Minister Frick gehängt und nicht seinen Untergebenen Stuckart, der die ganze Drecksarbeit für ihn erledigte? Glück hat er gehabt, dieser Stuckart, hat er sich die Hände doch nie mit Blut, sondern immer nur mit Tinte besudelt. Es sei noch einmal gesagt, der Klarheit wegen: Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenem nicht schuldig. Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch. Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können. Vielleicht mit weniger Eifer, dafür möglicherweise auch mit weniger Verzweiflung, jedenfalls aber auf die eine oder die andere Art. Die moderne Geschichte hat, denke ich, hinreichend bewiesen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewissen Voraussetzungen das tut, was man ihm sagt; und, verzeiht mir, die Wahrscheinlichkeitist gering, dass ihr die Ausnahme seid – so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit geboren seid, wo nicht nur niemand kommt, um eure Frau und eure Kinder zu töten, sondern auch niemand, um von euch zu verlangen, dass ihr die Frauen und Kinder anderer tötet, dann danket Gott und ziehet hin in Frieden. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt vielleicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht besser. Denn solltet ihr so vermessen sein, euch dafür zu halten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stellen wir dem Staat – ob er totalitär ist oder nicht – den gewöhnlichen Menschen gegenüber, die Laus oder das kleine Licht. Dabei vergessen wir jedoch, dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen, ein jeder mit seinem Leben, seiner Geschichte, jeder mit seiner Verkettung von Zufällen, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der richtigen Seite des Gewehrs oder Dokuments wiederfindet, während andere auf der falschen stehen. Dieser Gang der Ereignisse ist in den seltensten Fällen das Ergebnis einer Entscheidung oder gar einer
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