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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten
Autoren: Jonathan Littell
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Zahlen in konkreter Fantasie zu üben. Nehmt beispielsweise eine Uhr zur Hand und fangt an zu zählen: ein Toter, zwei Tote, drei Tote und so fort, alle 4,6 Sekunden (oder alle 6,12 Sekunden, 24 Sekunden, 40,8 Sekunden, falls ihr irgendeine besondere Vorliebe habt), wobei ihr versucht, euch diese Totenvorzustellen, wie sie dort aufgereiht vor euch liegen, eins, zwei, drei … Ihr werdet sehen, das ist eine gute Meditationsübung. Oder nehmt eine andere, aktuellere Katastrophe, die euch sehr nahegegangen ist, und zieht einen Vergleich. Wenn ihr Franzosen seid, dann betrachtet beispielsweise euer kleines algerisches Abenteuer, das eure Mitbürger so tief traumatisiert hat. Ihr habt dort, einschließlich der Unfälle, in sieben Jahren 25 000 Mann verloren: Das entspricht den Toten von einem Tag und knapp dreizehn Stunden an der Ostfront; oder auch den jüdischen Toten von rund sieben Tagen. Die Toten auf algerischer Seite rechne ich natürlich nicht mit: Da sie in euren Büchern und Sendungen so gut wie nie vorkommen, dürften sie für euch wohl keine große Bedeutung haben. Trotzdem habt ihr für jeden eurer eigenen Toten zehn von ihnen getötet, eine beachtliche Leistung, sogar an der unseren gemessen. Ich lasse es damit gut sein, obwohl wir noch lange fortfahren könnten, lade euch aber ein, macht ruhig allein weiter, bis ihr den Boden unter den Füßen verliert. Ich brauche das nicht: Schon lange ist mir der Gedanke an den Tod näher als meine Halsschlagader , wie es so hübsch im Koran heißt. Sollte es euch jemals gelingen, mich zum Weinen zu bringen, werden euch meine Tränen das Gesicht verätzen.
    Den Schluss aus alledem finden wir – wenn ihr mir ein weiteres Zitat gestattet, das letzte, ich verspreche es – in einer treffenden Wendung des Sophokles: Nicht geboren zu sein geht über alles. Schopenhauer schrieb übrigens ganz ähnlich, dass es besser wäre, wenn es nichts gäbe: Wer die Behauptung, daß, in der Welt, der Genuß den Schmerz überwiegt, oder wenigstens sie ineinander die Waage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung des Thieres, welches ein anderes frißt, mit der dieses andern. Ja, ich weiß, das sind zwei Zitate, aber es ist dieselbe Idee: In Wahrheit leben wir in der schlechtesten aller möglichen Welten. Gewiss, der Krieg ist vorbei. Wir haben unsere Lehren daraus gezogen,das passiert nie wieder. Doch seid ihr euch wirklich sicher, dass die Menschen daraus gelernt haben? Seid ihr sicher, dass das nie wieder passiert? Seid ihr überhaupt sicher, dass der Krieg vorbei ist? In gewisser Weise ist der Krieg nie vorbei, oder er ist erst vorbei, wenn das letzte Kind, das am letzten Tag des Krieges geboren wurde, wohlbehalten begraben ist, und auch danach lebt er in dessen Kindern und in deren Kindern fort, bis sich das Erbe allmählich verflüchtigt, die Erinnerungen verblassen und der Schmerz abklingt, auch wenn zu dem Zeitpunkt jeder ihn schon längst vergessen hat und all das zu den alten Geschichten zählt, die nicht einmal mehr dazu taugen, Kinder zu erschrecken, schon gar nicht die Kinder der Toten oder derer, die gerne tot wären.
    Ich ahne, was ihr denkt: Was für ein schlechter, bösartiger Mensch, sagt ihr euch, kurzum ein in jeder Beziehung übler Typ, der lieber im Gefängnis schmoren sollte, als uns hier – halb unbelehrbarer Faschist, halb reuiger Sünder – seine unausgegorene Philosophie aufzutischen. Was den Faschismus anbelangt, wollen wir doch nicht alles durcheinanderbringen, und was meine strafrechtliche Verantwortung angeht, solltet ihr vorschnelle Urteile vermeiden, ich habe meine Geschichte noch nicht erzählt; zur Frage meiner moralischen Verantwortung schließlich gestattet mir einige Überlegungen. Die politischen Philosophen haben oft dargelegt, dass in Kriegszeiten der Bürger, zumindest wenn er männlichen Geschlechts ist, eines seiner elementarsten Rechte verliert, das auf Leben, und zwar seit der Französischen Revolution und der Einführung der Wehrpflicht, dieses mittlerweile universell oder nahezu universell anerkannten Prinzips. Allerdings haben sie nur selten darauf verwiesen, dass der Bürger gleichzeitig ein weiteres Recht verliert, das vielleicht ebenso elementar und für ihn vielleicht noch existenzieller ist, insoweit es sein Selbstbild als zivilisierter Mensch betrifft: das Recht, nicht zu töten. Niemand fragt euch nach eurer Meinung.Den Menschen, der oben am Rand des Massengrabs steht, hat es in den meisten Fällen ebenso wenig
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