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Die Witzekiste

Die Witzekiste

Titel: Die Witzekiste
Autoren: Michael Lentz
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Jungfräulichkeit als Wert, das waren einmal bevorzugte Themen. Witzblätter des vorigen Jahrhunderts und der zwanziger Jahre beweisen, welch »andere Zeit« damals war.
    Vor allem ein Thema hat die fünfzig Jahre unverändert aktuell überstanden: »Thema eins« des Witzes war immer der Sex. Mit Potenzprotzen und Nymphomanie (deutsche Übersetzung: »zwangsläufig«), Ehebruch und Entdeckung, Heimlichkeit und Verbot. Die Tabugrenzen haben sich nur insoweit geändert, als solche Witze heute in aller Öffentlichkeit erzählt werden.
    Einen Toleranzschub können wir alle fast auf ein Datum genau festlegen: Die Diskussion um die Potenzpille »Viagra« hat auch Witze über das vorher tabuisierte Thema an den Familientisch geholt.
    Wie Witz auf Zeitströmungen reagiert, auf Pille, abstrakte Kunst, Computer und moderne Technik, auch daran erinnern wir uns vielleicht noch alle. Auch an die Dummenwitze, an Ostfriesen, Manta-Fahrer, Blondinen etc. Aber solche Scherze gab es auch schon bei den alten Griechen. Und das beeinträchtigt ihren zeitgeschichtlichen Wert.
    Die meisten Witze warten irgendwo wie unsterbliche Wegelagerer auf ihre Opfer. Viele Jahre und Jahrzehnte lang bleiben sie verschollen, bis sie sich plötzlich an eine Person oder Situation binden, mit der sie wieder ins Leben zurückkehren. Wirklich neue Witze hören wir selten. Auch wenn Friedrich Torberg vielleicht übertrieben hat, wenn er versichert, es gebe überhaupt nur zehn bis zwölf »Fundamentalwitze«. Sie würden stets aus einem aktuellen Anlass »neu eingekleidet«. Sie tun nur wie neu. Vorurteile helfen ihnen dabei. Der Besucher sagt dem Beamten am Schreibtisch: »Sie haben aber viele Fliegen hier.« – »Ja«, erwidert der, »374.«
    Je größer die Übereinstimmung mit der aktuellen Situation zu sein scheint, desto schwerer können die Lacher erkennen, dass sie denselben Witz in einem anderen Zusammenhang schon einmal gehört haben. Über das ›Neue Deutschland‹, die Parteizeitung der DDR, wurde z. B. behauptet, sie veranstalte ein Preisausschreiben für den besten politischen Witz. Erster Preis: zehn Jahre Zwangsarbeit. Dieser Witz wurde aber schon über das nationalsozialistische Parteiblatt ›Das Reich‹ erzählt und auch über die Moskauer ›Prawda‹. Witze über Diktatoren erhalten sich oft ohne Namen. Die können dann einfach eingefügt werden. Der Kabarettist Werner Finck erzählte die Geschichte von dem Mann, der einen verhassten Tyrannen vor dem Ertrinken rettet. Gefragt, welchen Wunsch er zur Belohnung erfüllt haben möchte, antwortet er: »Sagen Sie ja niemandem, wer Sie gerettet hat!«
    Dass dieser Text inzwischen auch Helmut Kohl zugeschrieben wurde, beweist, wie wenig sich manche Witzsucher um Treffsicherheit bemühen. Die Gefahr des primitiven Nachplapperns ist beim politischen Witz besonders groß.
    Es wurde schon mal die Frage gestellt: »Welches ist das dünnste Buch der Welt?« Die Antwort lautete: »Zweitausend Jahre deutscher Humor«.
    Haben wir Deutschen Humor? Der Vorwurf, keinen Humor zu haben, beunruhigt vor allem den Teil unseres Volkes, der Humor besitzt. Wer keinen Humor hat, vermisst ihn auch nicht. Der Wiener Kritiker und Schriftsteller Alfred Polgar urteilte: »Der deutsche Humor trägt eine Tarnkappe. Immerzu schreit er: ›Hier bin ich!‹, und keiner sieht ihn.«
    Der polnische Romancier Thadäusz Nowakowski erzählte, er sei, als er 1956 von London nach Deutschland kam, von Heinrich Böll gewarnt worden: »Erzählen Sie nur keinen Witz bei uns. Zuerst wird er mit herzlichem Beifall quittiert, aber kurz danach wird jemand im Saal aufstehen und die Frage stellen: ›Was wollten Sie eigentlich damit sagen?‹«
    Was uns fehlt, ist vermutlich der englische »sense of humour«, der den ganzen Alltag prägt und schon in der Schule eingeübt wird. Er schafft in Debatten und Unterhaltungen jene besondere Atmosphäre, in der keiner mehr übelnimmt und den Saal verlässt, sondernin der Bonmots und Treffer der anderen Seite mit beklatscht werden.
    Das »Volk der Dichter und Denker« sei zu ernst für Humor, habe ich oft gehört. Bei uns prallen immer gleich Weltanschauungen aufeinander, gilt jemand, der lustig ist, nicht als seriös. Dabei meinte schon Schopenhauer: »Je mehr der Mensch des ganzen Ernstes fähig ist, desto herzlicher kann er lachen.«
    Und die deutsche Literatur ist gewiss nicht humorlos. Heinrich Heine, Jean Paul, Wilhelm Busch, Karl Valentin, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz und Eugen
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