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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman
Autoren: Aufbau
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wurde wieder in ihre Zelle geführt.
    Etliche Monate dauerte es, bis die Berufung verhandelt wurde. Kaum eine Nacht verging, in der Tom nicht von einem schrecklichen Traum heimgesucht wurde. Seltsamerweise war er stets das Opfer. Er war in der Gaskammer, auf einen Stuhl gefesselt. Rauchwölkchen krochen an seinen Knöcheln und seinen Knien und Hüften empor. Er wachte schreiend auf, und Cal hielt ihn fest und legte sich zu ihm, bis er wieder eingeschlafen war.
    Jeden Mittwochnachmittag fuhren sie ins Gefängnis. Tommy graute vor jedem Besuch. Diane war immer tapfer und voller Hoffnung, als handele es sich um ein einziges Missverständnis, das sich bald aufklären würde. Einmal, als er und Cal im Warteraum saßen, flog ein brauner Vogel durch die vergitterten Fenster. Vier große Ventilatoren hingen an der Decke, und sie sahen zu, wie sich der Vogel ihnen gefährlich näherte. Einer der Wärter fand ein Netz an einem der Pfosten und versuchte, den Vogel einzufangen. Am Ende trieb er die arme Kreatur in einen der Ventilatoren, und der Vogel fiel in einer Federwolke tot zu Boden.
    Die Berufung wurde abgewiesen und das Datum für Dianes Hinrichtung festgesetzt. Jede Sekunde dieses letzten Besuches hatte sich in Toms Gedächtnis eingebrannt. Das Klirren und die |358| Stimmen, die im Korridor widerhallten; wie er dem fetten Wächter gefolgt war durch all die Türen und Tore; der Anblick Dianes, die ihn im Sonnenlicht der Zelle anlächelte, als die Wärterin die Tür öffnete. Und er hatte nur diese bodenlose Wut darüber verspürt, dass das Leben so war, wie es war.
    Als ihre Zeit verstrichen war, saß er wieder im Warteraum, während Cal sich von Diane verabschiedete. Er kam zurück, Tom erhob sich, und Cal legte seinen Arm um ihn, und sie traten aus dem Zellenblock hinaus in die laue Abendluft. Über dem Gefängnis wogte ein riesiges Sternenbanner im letzten Sonnenlicht. Tom ließ es den ganzen Weg bis zum Auto und auch, als sie wegfuhren, nicht aus den Augen, als hätte es die Macht, das Bevorstehende aufzuhalten.
    Zwei Tage später ging Diane in die Gaskammer.

|359| EINUNDDREISSIG
    Danny fragte ihn in dieser Nacht nichts. Sie saßen schweigend da, bis eine Windbö die Glut aufwirbelte. Tom sah dem Jungen an, dass ihn die Geschichte seiner Großmutter zugleich entsetzte und anrührte. Ob es ihm auch half, die Last seiner eigenen Schuld an den Morden, die er begangen hatte, zu mindern, wusste Tom nicht. Wahrscheinlich nicht. Nur die Zeit vermochte das.
    Am nächsten Tag, auf der Fahrt zurück nach Missoula, wollte Danny wissen, ob Gina Bescheid wisse. Tom sagte, er habe nur offenbart, dass seine »Schwester« mit dreizehn bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Er sagte, er werde Gina alles erzählen, wenn Danny der Meinung war, es sei eine gute Idee.
    Danny sagte, er glaube ja. Er stellte viele Fragen über Cal, der im Jahr von Dannys Geburt an einem Herzanfall gestorben war. Gina und Cal hatten sich nie kennengelernt. Danny brachte Tom dazu, von seinen Jahren als Teenager in Choteau zu erzählen, wie glücklich sie gewesen waren und dass er es Cal und seinen Eltern zu verdanken hatte, dass man ihn nicht in eine Besserungsanstalt geschickt hatte.
    »Was ist aus Cals Eltern geworden?«
    »John ist in den frühen Siebzigern gestorben, zwei Jahre nachdem ich mich an der Universität eingeschrieben hatte. Rose lebte noch fünf Jahre. Es ging ihr nicht gut, nachdem ihr Mann gestorben war. Sie hatte das, was man heute Alzheimer nennt. Am Ende musste Cal sie in ein Pflegeheim geben.«
    »Du musst Cal sehr vermisst haben.«
    |360| »Ja. Er war ein großartiger Mensch. Er war wie ein Vater für mich. Ich vermisse ihn heute noch.«
    Toms Beichte am Lagerfeuer hatte Dannys Interesse für die Familiengeschichte geweckt. Er suchte Filme, in denen Diane zu sehen war. Die beiden, die sie in England gedreht hatte, waren nicht auf Video erschienen. Aber etwa ein Jahr später stieß er auf eine obskure Webseite mit
The Forsaken
. Er rief Tom an und fragte ihn ein wenig nervös, ob er den Film sehen wolle. Tom zögerte lange, doch schließlich sagte er, wenn Danny ihm eine DVD schicke, sehe er ihn sich an.
    »Der Film ist nicht besonders gut«, sagte Danny. »Aber sie ist sensationell. Sie ist wunderschön. Und er ist so ein Trottel! Ich habe ein paar
Sliprock
-Episoden ausgegraben und … Sorry, Dad. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
    Die DVD lag fast einen Monat auf Toms Schreibtisch, bevor er den Mut fand, sie sich anzusehen.
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