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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Autoren: Stefan Zweig
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großes Licht der Hoffnung war erloschen. Aber es hat geleuchtet einen Tag, zwei Tage lang und unsere Herzen erwärmt. Ich kann und will diese Tage nicht vergessen.

    Von der Zeit an, da wir erkannten, was in München wirklich geschehen war, sah ich paradoxerweise in England wenig Engländer mehr. Die Schuld lag an mir, denn ich wich ihnen oder vielmehr dem Gespräch mit ihnen aus, obwohl ich sie mehr bewundern mußte als je. Sie waren zu den Flüchtlingen, die jetzt in Scharen herüberkamen, großmütig, sie zeigten nobelstes Mitleid und hilfreiche Anteilnahme. Aber zwischen ihnen und uns wuchs innerlich eine Art Wand, ein Hüben und Drüben: uns war es schon widerfahren, und ihnen war es noch nicht widerfahren. Wir verstanden, was geschehen war und geschehen würde, sie aber weigerten sich noch – zum Teil gegen ihr besseres inneres Wissen –, es zu verstehen. Sie versuchten trotz allem in dem Wahn zu beharren, ein Wort sei ein Wort, ein Vertrag ein Vertrag, und man könne mit Hitler verhandeln, wenn man nur vernünftig, wenn man menschlich mit ihm rede. Durch demokratische Tradition dem Recht seit Jahrhunderten verschworen, konnten oder wollten die führenden englischen Kreise nicht wahrhaben, daß neben ihnen eine neue Technik der bewußten zynischen Amoralität sich aufbaute und daß das neue Deutschland alle im Umgang der Völker und im Rahmen des Rechts jeweils gültigen Spielregeln umstieß, sobald sie ihm lästig schienen. Den klar-, den weitdenkenden Engländern, die längst allen Abenteuern abgesagt, schien es zu unwahrscheinlich, daß dieser Mann, der so rasch, so leicht so viel erreicht, das Äußerste wagen würde; immer glaubten und hofften sie, daß er sich vorerst gegen andere – am liebsten gegen Rußland! – wenden würde, und inzwischen könne man mit ihm zu irgendeiner Einigung gelangen. Wir dagegen wußten, daß das Ungeheuerlichste als selbstverständlich zu erwarten war. Wir hatten jeder das Bild eines erschlagenen Freundes, eines gefolterten Kameraden hinter der Pupille und darum härtere, schärfere, unerbittlichere Augen. Wir Geächteten, Gejagten, Entrechteten, wir wußten, daß kein Vorwand zu unsinnig, zu lügnerisch war, wenn es um Raub ging und Macht. So sprachen wir, die Geprüften und die noch der Prüfung Aufgesparten, wir, die Emigranten und die Engländer verschiedene Sprachen; ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß außer einer ganz verschwindend kleinen Zahl von Engländern wir damals die einzigen in England gewesen sind, die sich über den vollen Umfang der Gefahr keiner Täuschung hingaben. Wie seinerzeit in Österreich, war es mir auch in England bestimmt, mit zerfoltertem Herzen und einer quälenden Scharfsichtigkeit das Unvermeidliche deutlicher vorauszusehen, nur daß ich hier als Fremder, als geduldeter Gast nicht warnen durfte.
    So hatten wir vom Schicksal schon mit dem Brandmal Gezeichneten nur uns allein, wenn der bittere Vorgeschmack des Kommenden uns die Lippe ätzte, und wie haben wir uns die Seele zerquält mit der Sorge um das Land, das uns brüderlich aufgenommen! Daß aber selbst in der dunkelsten Zeit ein Gespräch mit einem geistigen Mann höchsten moralischen Maßes unermeßliche Tröstung und seelische Bestärkung zu gewähren vermag, haben mir in unvergeßlicher Weise die freundschaftlichen Stunden erwiesen, die ich in jenen letzten Monaten vor der Katastrophe mit Sigmund Freud verbringen durfte. Monatelang hatte der Gedanke, daß der dreiundachtzigjährige kranke Mann im Wien Hitlers zurückgeblieben war, auf mir gelastet, bis es endlich der wunderbaren Prinzessin Maria Bonaparte, seiner getreuesten Schülerin, gelang, diesen wichtigsten Menschen, der im geknechteten Wien lebte, von dort nach London zu retten. Es war ein großer Glückstag in meinem Leben, als ich in der Zeitung las, daß er die Insel betreten und ich den verehrtesten meiner Freunde, den ich schon verloren geglaubt, aus dem Hades noch einmal wiederkehren sah.

    Ich hatte Sigmund Freud, diesen großen und strengen Geist, der wie kein anderer in unserer Epoche das Wissen um die menschliche Seele vertieft und erweitert, in Wien noch zu jenen Zeiten gekannt, da er dort als eigensinniger und peinlicher Eigenbrötler gewertet und befeindet wurde. Ein Fanatiker der Wahrheit, aber zugleich der Begrenztheit jeder Wahrheit genau sich bewußt – er sagte mir einmal: »Es gibt ebensowenig eine hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol!« – hatte er sich der
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