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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Autoren: Stefan Zweig
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Universität und ihren akademischen Vorsichtigkeiten entfremdet durch die unerschütterliche Art, mit der er sich vorwagte in bisher unbetretene und ängstlich gemiedene Zonen der irdisch-unterirdischen Triebwelt, also gerade jene Sphäre, über die jene Zeit das ›Tabu‹ feierlich ausgesprochen. Unbewußt spürte die optimistisch-liberale Welt, daß dieser unkompromißlerische Geist ihre These von der allmählichen Unterdrückung der Triebe durch die ›Vernunft‹ und den ›Fortschritt‹ mit seiner Tiefenpsychologie unerbittlich unterhöhlte, daß er ihrer Methodik der Ignorierung des Unbequemen gefährlich war durch seine mitleidslose Technik der Entschleierung. Es war aber nicht die Universität allein, nicht nur der Klüngel der altmodischen Nervenärzte, die sich gemeinsam wehrten gegen diesen unbequemen ›Außenseiter‹ – es war die ganze Welt, die ganze alte Welt, die alte Denkart, die moralische ›Konvention‹, es war die ganze Epoche, die in ihm den Entschleierer fürchtete. Langsam bildete sich ein ärztlicher Boykott gegen ihn, er verlor seine Praxis, und da wissenschaftlich seine Thesen und selbst die kühnsten seiner Problemstellungen nicht zu widerlegen waren, versuchte man seine Theorien vom Traum nach wienerischer Art zu erledigen, indem man sie ironisierte oder banalisierte zum scherzhaften Gesellschaftsspiel. Nur ein kleiner Kreis von Getreuen sammelte sich um den Einsamen zu allwöchentlichen Diskussionsabenden, in denen die neue Wissenschaft der Psychoanalyse ihre erste Formung erhielt. Noch lange ehe ich selbst des ganzen Ausmaßes der geistigen Revolution gewahr wurde, die sich langsam aus den ersten grundlegenden Arbeiten Freuds vorbereitete, hatte mich die starke, moralisch unerschütterliche Haltung dieses außerordentlichen Mannes ihm bereits gewonnen. Hier war endlich ein Mann der Wissenschaft, wie ein junger Mensch sich ihn als Vorbild träumen konnte, vorsichtig in jeder Behauptung, solange er nicht letzten Beweis und absolute Sicherheit hatte, aber unerschütterlich gegen den Widerstand der ganzen Welt, sobald sich ihm eine Hypothese in gültige Gewißheit verwandelt hatte, ein Mann, bescheiden wie nur irgendeiner für seine Person, aber kampfentschlossen für jedes Dogma seiner Lehre und bis in den Tod getreu der immanenten Wahrheit, die er in seiner Erkenntnis verteidigte. Man konnte sich keinen geistig unerschrockeneren Menschen denken; Freud wagte jederzeit auszusprechen, was er dachte, auch wenn er wußte, daß er mit diesem klaren, unerbittlichen Aussprechen beunruhigte und verstörte; nie suchte er seine schwere Position durch die mindeste – auch nur formale – Konzession zu erleichtern. Ich bin gewiß, Freud hätte ungehindert von jedem akademischen Widerstand vier Fünftel seiner Theorien aussprechen können, hätte er sich bereitgefunden, sie vorsichtig zu drapieren, ›Erotik‹ zu sagen statt ›Sexualität‹, ›Eros‹ statt ›Libido‹, und nicht unerbittlich immer die letzten Konsequenzen festzustellen, statt sie bloß anzudeuten. Aber wo es die Lehre und die Wahrheit galt, blieb er intransigent; je härter der Widerstand, um so mehr härtete sich seine Entschlossenheit. Wenn ich mir für den Begriff des moralischen Mutes – des einzigen Heroismus auf Erden, der keine fremden Opfer fordert – ein Symbol suche, sehe ich immer das schöne, männlich klare Antlitz Freuds mit den gerade und ruhig blickenden dunklen Augen vor mir.
    Der Mann, der nun aus seiner Heimat, der er Ruhm über die Erde und durch die Zeiten geschenkt, nach London flüchtete, war den Jahren nach längst ein alter und außerdem ein schwerkranker Mann. Aber es war kein müder Mann und kein gebeugter. Ich hatte mich im geheimen ein wenig gefürchtet, ihn verbittert oder verstört wiederzufinden nach all den quälenden Stunden, durch die er in Wien gegangen sein mußte, und fand ihn freier und sogar glücklicher als je. Er führte mich hinaus in den Garten des Londoner Vorstadthauses. »Habe ich je schöner gewohnt?« fragte er mit einem hellen Lächeln um den einstmals so strengen Mund. Er zeigte mir seine geliebten ägyptischen Statuetten, die ihm Maria Bonaparte gerettet. »Bin ich nicht wieder zu Hause?« Und auf dem Schreibtisch lagen aufgeschlagen die großen Folioseiten seines Manuskripts, und er schrieb, dreiundachtzigjährig, mit derselben runden klaren Schrift jeden Tag, gleich hell im Geiste wie in seinen besten Tagen und gleich unermüdlich; sein starker Wille hatte alles
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