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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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– diesen auf seinen Rohzustand reduzierten Körper, der nichts mehr mit dem zu tun hatte, was die wirkliche Person Jean-Christophe de G.s ausmachte. Und da wurde ihr bewusst, dass sie seit Beginn des Abends erst jetzt zum ersten Mal wirklich seinen Körper betrachtete, dass sie kein einziges Mal zuvor in dieser Nacht, auch nicht, als sie sich umarmten, sich für seinen Körper interessiert hatte, ihn kaum berührt, ihn nicht einmal angeschaut, sich immer nur um ihren eigenen Körper gekümmert hatte, um ihre eigene Lust.
    Angesichts der gescheiterten Defibrillation unternahm der Arzt sofort einen weiteren Versuch, setzte einen zweiten, noch stärkeren Stromstoß. Nach einem Moment der angespannten Stille, in dem alle Blicke gebannt auf den leuchtenden Monitor gerichtet waren, begann das Elektrokardiogramm von Jean-Christophe de G. wieder schwache Ausschläge zu zeigen, das Herz schlug wieder. Ein Sanitäter spritzte eine Dosis eines Antiarrhythmikums in den Tropf, verabreichte eine zusätzliche Dosis Morphium. Da der Zustand des Kranken stabilisiert zu sein schien, entschied der Notarzt, ihn auf der Stelle in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Weitere Anweisungen waren nicht nötig, jeder wusste, was zu tun war, die Sanitäter sprangen auf und trafen Vorbereitungen für den Abtransport, sie begannen, ihre überall auf dem Boden herumliegenden Utensilien aufzusammeln und in die Taschen zu verstauen, die ersten trugen bereits ihre Koffer hinunter zum Rettungswagen. Marie beobachtete dieses lautlose und präzise Ballett, das sich in zentrifugalen Bewegungen vom leblosen Körper Jean-Christophe de G.s entfernte, den man zum ersten Mal allein ließ, mitten im Zimmer, angeschlossen an den Tropf und an die kleine Sauerstoffflasche, die neben ihm auf dem Parkett lag. Die Sanitäter kamen mit einer Tragbahre zurück, die sie im Zimmer auseinanderfalteten, Stangen wurden hineingeschoben, bevor sie sie aufklappten, die Stabilität der Konstruktion und die Festigkeit des Stoffes wurden geprüft, bevor sie dann mit äußerster Vorsicht Jean-Christophe de G. darauf hoben. Man breitete eine Decke über seine Knie, befestigte die Beine mit Gurten, die man fest um die Oberschenkel zurrte, und dann trugen sie ihn aus dem Zimmer in den Flur, ein Sanitäter lief mit dem Infusionsschlauch und der Sauerstoffflasche neben der Trage her. Der Tross verließ eilig die Wohnung, Marie folgte ihnen barfuß bis auf den Treppenabsatz, sie versuchte, die Treppenbeleuchtung einzuschalten, aber sie funktionierte nicht, und sie sah zu, wie sie in der Dunkelheit hinunterstiegen. Sie kamen auf der Treppe nur langsam, Stufe um Stufe, voran, mussten auf die Neigung der Trage und auf die Winkel des Treppenhauses aufpassen, sie durften nicht gegen die Wände oder das Geländer stoßen. Auf den letzten Metern löste sich einer der Sanitäter von der Gruppe, hastete voraus und öffnete die Haustür, um den Durchgang für die Trage zu ermöglichen. Sie passierten die Haustür und verschwanden in genau dem Moment aus Maries Blickfeld, in dem ich vor dem Gebäude auftauchte, ich, der einzige verirrte Gaffer auf dieser menschenleeren Straße um drei Uhr morgens.
    Als Marie mich mitten in der Nacht anrief, hatte ich zunächst gar nichts verstanden. Der Regen fiel in Strömen durch das offene Fenster, und der Donner grollte, ich hörte das Klingeln des Telefons durch die Dunkelheit der kleinen Zweizimmerwohnung hallen, in die ich ein paar Monate zuvor gezogen war. Schon beim Abheben des Telefons erkannte ich Maries Stimme, Marie, die mich anrief, gleich nachdem sie den Notarzt gerufen hatte – kurz danach oder kurz davor, ich weiß nicht, die beiden Anrufe müssen jedenfalls unmittelbar im Anschluss aneinander stattgefunden haben –, Marie, die völlig außer sich und verwirrt mich flehentlich zu Hilfe rief, mich inständig bat, zu ihr zu kommen, auf der Stelle, mir aber nicht sagte, warum, komm, sagte sie mir mit überschlagender Stimme, komm sofort, beeil dich, es ist dringend, sie drang in mich, flehte mich an, zu ihr in die Rue de La Vrillière zu kommen.
    Der Anruf Maries – es war kurz nach zwei Uhr morgens, das weiß ich genau, ich habe auf die Uhr geschaut, als das Telefon klingelte – war extrem kurz, keiner von uns beiden hatte Lust oder war in der Lage zu reden, Marie hatte mich schlicht zu Hilfe gerufen, und mir hatte es die Stimme verschlagen, ich war noch gelähmt von der Angst, die mich beim Klingeln des Telefons mitten in der Nacht erfasst
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