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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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einige Minuten lang quälen, bevor sie dann auf ebenso geheimnisvolle Weise wieder schweigen, aber der Alarm in dieser Nacht klang schriller als sonst, noch beängstigender – nie zuvor hatte ich Vergleichbares gehört, es war, als kündigte diese Sirene eine unbekannte Katastrophe an, warnte die Bevölkerung vor irgendeinem nuklearen Störfall –, und verstummte erst vierzig Minuten später, Zeit genug, damit Marie und ich Gelegenheit fanden, aufzustehen und zum Fenster zu gehen, Marie nur bekleidet mit einem ihrer weiten grauen Baumwoll-T-Shirts, die sie anstelle von Pyjamas trug, schlaftrunken, die Augen halb geschlossen, mit leicht erhitzten Wangen an mich gelehnt, ich konnte ihren noch schlafwarmen Körper riechen. Seite an Seite hatten wir dort am Fenster wunderbare Momente der Komplizenschaft und der stillen Zärtlichkeit erlebt, ich hielt sie an der Taille umfasst, wir schauten auf die düstere Hausfassade der Banque de France uns gegenüber und tauschten von Zeit zu Zeit einen amüsierten Blick aus, beobachteten, was dort drüben vor sich ging, ohne es verstehen zu wollen, es war, als sei die Zeit angehalten, ein außergewöhnlich dynamischer Zustand, ein Nichts, eine Leere, die angefüllt war mit einer unsichtbaren Energie, die offenbar jeden Moment explodieren konnte, ein Nichts, das sich fortwährend von neuen Elementen nährte, die, zusammenhanglos, winzig, unverfänglich, immer wieder in regelmäßigen Abständen auftauchten, um erneut Spannung zu erzeugen und uns davon abzuhalten, wieder ins Bett zu gehen, so war zum Beispiel in der Nacht ein Wagen der Polizei vorgefahren, zwei oder drei Beamte waren herausgestürzt und hatten eine schemenhafte Kette zur Absicherung der Bank gebildet, oder noch weitere zehn Minuten später, als sich wie in Zeitlupe das schwere bronzene Portal der Bank einen kleinen Spaltbreit geöffnet hatte, ohne dass sich in der Folge mehr ereignete, als dass ein Wächter seinen Kopf in die Nacht hinausgestreckt hatte, das war auch schon alles gewesen, das schwere bronzene Portal hatte sich wieder hinter ihm geschlossen und aufs Neue unten auf der sonst menschenleeren Straße jene diffuse Bedrohung hinterlassen, die umso wirksamer war, als sie unsichtbar blieb. Ich habe übrigens nie erfahren, was wirklich passiert war, in den darauf folgenden Tagen habe ich die Zeitungen durchgeblättert, aber nichts gefunden, was mit dem Vorfall in Verbindung stand, und so ist mir von dieser Nacht nur eine Erinnerung geblieben, jene der so köstlich-sinnlichen, wortlosen Eintracht mit Marie.
    Dreißig Meter trennten mich noch von dem Gebäude, jetzt rannte ich nicht mehr, lief rasch, beschleunigte meine Schritte und verlangsamte sie gleichzeitig, in ein und derselben widersprüchlichen Bewegung, in ein und demselben Impuls, demselben widerwilligen Gang. Mein anfänglicher Schwung war dahin, gebrochen durch die Angst, die über mich kam, als ich die Blaulichter vor dem Haus von Marie sah, sofort wurde ich langsamer, düstere Vorahnungen lähmten mich auf den letzten Metern, hielten mich zurück, die Beine wurden schwer. Ich ging weiter und nahm undeutlich Licht hinter den regennassen Seitenfenstern des Krankenwagens wahr, ein gelbes Licht in diesem geheimen, privatesten Bereich, in dem die Verletzten liegen, als sich plötzlich vor mir die Toreinfahrt des Gebäudes öffnete. Zunächst sah ich nur einen weißen Arm, den Arm eines Sanitäters, der die Tür aufhielt, dann sah ich die anderen Sanitäter das Haus verlassen, es waren vier oder fünf, in weißen Arztkitteln, sie transportierten so etwas wie eine menschliche Gestalt auf ihrer Tragbahre, und meine Brust schnürte sich zusammen, als ich sah, dass tatsächlich jemand darauf lag – jemand, der Marie hätte sein können, denn ich wusste ja nicht, was passiert war, Marie hatte mir am Telefon nichts gesagt, aber das war nicht Marie, das war ein Mann, ich sah seine Strümpfe unter einer ärmlichen Decke herausragen, die den Körper bedeckte. Ich sah nur Details, isoliert, vergrößert, vom Ganzen getrennt und flüchtig aufgefangen, die dunklen Strümpfe als Erstes, als würde sich dieser Mann von nun an auf seine Strümpfe reduzieren, der Arm, furchterregend, eine Infusion steckte darin, ein aschfahler, gelblicher, totenbleicher Arm, auch das weiße Gesicht zog meine besondere Aufmerksamkeit auf sich, ich erforschte die Gesichtszüge, versuchte, jemanden zu erkennen, aber vergeblich, es war schlicht ein unsichtbares Gesicht, verschwunden unter
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