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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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Tage, Schachpartien gegen Yussuf, ihre Vereidigung als Janitscharen, seine Ausbildung . Er sah, wie er von einem fremden Mann in der Kleidung eines Kochmeisters auf ein Pferd gehoben wurde. Er sah einen Mann und eine Frau in ihrem Blut liegen. Plötzlich wusste er, dass seine Eltern von fremden Soldaten erschlagen worden waren, ebenso wie seine Geschwister und alle anderen im Dorf. Sie waren über sie hergefallen wie ausgehungerte Krähen über die frische Saat. Warum hatten sie ihn nicht auch getötet, sondern mitgenommen? Weil er ein Junge war. Und weil er zufällig genau jenes Alter erreicht hatte, das günstig war, um aus ihm einen Janitscharen zu machen. Er war bereits zu groß, als dass sich noch eine Amme um ihn hätte kümmern müssen. Und doch war er noch klein genug, um alles rasch zu vergessen – seine Heimat, seine Familie. Mit Erfolg. Abgesehen von seinen Träumen, abgesehen von diesem Augenblick der Klarheit. Er war kein Janitschar, war es nie gewesen. Man hatte ihn belogen . Er war geraubt worden, gestohlen wie ein Stück Vieh, und seine Familie war tot. Das wusste er jetzt.
    Rashid fiel zu Boden. Langsam, so langsam, wie es eigentlich gar nicht möglich war. Fiel er wirklich so langsam, oder kam es ihm nur so vor? Er konnte nicht mehr atmen, aber das schien auch keine Rolle mehr zu spielen. Der Schmerz verstärkte sich noch einmal, als er auf dem Boden der Kirche aufschlug. Die Steinfliesen waren hart und viel kälter als gewöhnlicher Stein. Dann ließ der Schmerz nach. Er wurde dumpfer, trat mehr und mehr in den Hintergrund, war nicht mehr wichtig. Er war kein Janitschar. Und er hieß auch nicht Rashid. Sein richtiger Name war … Es fiel ihm nicht ein. Noch nicht.
    Jemand beugte sich über ihn. Es war Anne. Tränen strömten über ihre Wangen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er nie eine Familie mit ihr haben würde, dass er keine Kinder aufwachsen sehen würde. Er würde sterben. Hier. Jetzt. Irgendwo war Lärm zu hören, Männer schrien. Aber es war weit weg und schien sich immer weiter von ihm zu entfernen . Anne strich ihm über das Haar. Ihre Hand zitterte, und sie weinte. Es war ein Anblick, den er nicht ertragen konnte. Aber wie sollte er sie trösten? Er konnte nicht sprechen, kein Laut kam über seine Lippen, so sehr er es sich auch wünschte. Vielleicht hätte er doch erst überlegen sollen, bevor er losgerannt war, vielleicht hätte er es wenigstens dieses eine Mal tun sollen. Um Annes willen.
    Er sah sie an. Er wollte ihr noch so vieles sagen. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie liebte, wie gern er mehr Zeit mit ihr verbracht hätte – aber er konnte nicht. Und dann tauchte plötzlich hinter Anne ein anderes Gesicht auf. Es war das Gesicht der Frau, die er aus seinen Träumen kannte. Ihr blondes Haar schimmerte golden, und er wollte es streicheln. Plötzlich konnte er sich an so vieles erinnern – an das Haus, in dem es immer so wunderbar nach Heu geduftet hatte, an den kleinen Bach hinter dem Haus, der selbst im Sommer eiskalt gewesen war, an die Kühe und den Schweinestall, an den Klang des Lachens dieser Frau und an ihren Geruch. Wie gut sie immer geduftet hatte! Nach frischem Brot und geräuchertem Speck. Sie lächelte ihn an.
    »Komm, Gernot«, sagte sie zu ihm wie zu einem kleinen Kind und streckte eine Hand nach ihm aus. »Komm. Ich bringe dich nach Hause. Vater, Josef und Magdalena warten schon auf dich. Komm.«
    Gernot. Ja, das war sein Name. Sie war seine Mutter. Voller Vertrauen ergriff er ihre warme, weiche Hand und ließ sich von ihr in den dunklen Tunnel hineinführen, an dessen Ende ein helles, warmes Licht leuchtete.
    »Anselmo, nein, lass es, es ist gut!« Cosimo hielt Anselmo fest, der sich heftig in seinen Armen wand und sträubte. Er sah aus, als wollte er hinter Giacomo und Stefano herrennen, die durch die Luke in Salomons Steinbrüche geflohen waren. »Lass sie laufen. Wir werden sie schon kriegen, das verspreche ich dir. Jetzt hat es keinen Sinn. Giacomo kennt sich dort unten besser aus als wir. Außerdem haben wir keine Waffen. Was jetzt zu tun ist, werden schon die Wachen erledigen.«
    »Dieses Schwein! Dieser Mistkerl!«, schrie Anselmo. Er war vor Wut und Verzweiflung außer sich. »Dieser verfluchte Hurensohn, ich werde ihn …«
    »Anselmo, lass jetzt ab. Wir müssen uns um Rashid und Signorina Anne kümmern.«
    Anselmo keuchte. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, doch er gab nach. Gemeinsam gingen sie zu Anne, die nur wenige Schritte von ihnen
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