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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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gegangen?
    Anne rieb sich die Stirn. Sie war müde, so entsetzlich müde.
    »Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück«, sagte Anselmo, schlug einmal mit der Faust gegen das Bücherregal, als wäre es für alles Elend dieser Welt verantwortlich, und verschwand ohne ein weiteres Wort.
    Cosimo sah ihm nach und seufzte.
    »Rashid ist für ihn gestorben, und er wird eine ganze Zeit damit zu kämpfen haben«, sagte er leise. »Ich glaube, auch ich werde schlafen gehen. Was auch immer wir jetzt tun, wir können nichts ändern. Und wir sollten sorgfältig überlegen, welche Schritte wir als Nächstes unternehmen. Auch Ihr solltet schlafen gehen, Signorina Anne. Oder Euch wenigstens ausruhen . Ihr seht müde aus.«
    Anne schüttelte den Kopf. Wie sollte sie jetzt in ihr Zimmer zurückkehren, in dem sich noch Rashids Sachen befanden, oder sich gar in das Bett legen, in dem sie mit Rashid geschlafen hatte?
    »Nein. Ich will noch ein bisschen hier sitzen bleiben.«
    Cosimo sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck an. Dann holte er die Pergamentrolle aus dem Geheimfach hervor und reichte sie ihr.
    »Was soll ich damit?«, fragte sie gereizt. Sie wollte mit diesem Ding nichts zu tun haben, dieser blöden Handschrift. Rashid war nicht für Anselmo gestorben, sondern letztlich für dieses Stück Pergament.
    »Nehmt sie an Euch«, sagte Cosimo nachdrücklich. »Denkt daran, dass Ihr nicht ohne Grund hier seid. Ihr solltet Eure Aufgabe erfüllen – wie auch immer sie lauten mag.«
    Anne nahm die Rolle zögernd, doch sie sah sie nicht an. Sie starrte ins Kaminfeuer, Atemzug für Atemzug, und spielte mit der Münze, die sie im Steinbruch aufgehoben hatte. Sie sah immer noch ins Kaminfeuer, auch als Cosimo die Bibliothek schon längst verlassen hatte. Irgendwann begannen ihre Augen vor Müdigkeit zu brennen, und schließlich konnte sie sie nicht länger offen halten. Sie schlief ein.
    Das Pergament
    Ein gleichmäßiges, eintöniges Piepsen riss Anne aus dem Schlaf. Es war dunkel in der Bibliothek, selbst das Kaminfeuer war bereits erloschen. So vollständig, dass sie nicht einmal mehr die Glut sehen konnte. Und dann … Aber wo waren die Regale, die Bücher, der Tisch, die Sessel?
    Das Piepsen wurde lauter, unbarmherziger, und der Rhythmus änderte sich. Plötzlich fiel ihr auf, dass es ein elektronisches Piepsen war. Und es war ein Geräusch, das sie kannte oder ihr wenigstens bekannt vorkam. Es war ein Wecker. Das Ziffernblatt zeigte genau 0:01 an. Sie war wieder in der Gegenwart. Es hatte funktioniert. Oder hatte sie alles nur geträumt?
    Sie fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es war nass, und sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft wie jemand, der lange und viel geweint hatte. Und dann sah sie neben sich auf der Bettdecke eine mit einem Faden zusammengebundene Pergamentrolle liegen. Und daneben lag eine Münze. Aber … War das denn möglich?
    Anne tastete nach dem Schalter ihrer Nachttischleuchte und knipste das Licht an. Mit fliegenden Fingern löste sie die Schnur und rollte das Pergament auseinander. Das Pergament war eng beschrieben. Sie sah Buchstaben und unbekannte Zeichen in scheinbar heillosem Durcheinander. In der linken oberen Ecke befand sich eine kleine Zeichnung – ein sitzender Falke. Das war es. Das war das Pergament, das Cosimo Mecidea alias Cosimo de Medici haben wollte, der Grund, weshalb sie die seltsame Reise unternommen hatte. Und ganz gleich, ob sie nun alles geträumt hatte oder ob sie wirklich in der letzten halben Stunde im Jahr 1530 gewesen war – sie hatte jetzt diese Schrift. Sie suchte aus ihrer Handtasche die Karte mit Cosimos Telefonnummer heraus und griff zum Hörer. Es war zwar mitten in der Nacht, auch in Italien oder wo immer er sich gerade aufhielt, aber sie musste mit Cosimo sprechen, jetzt sofort.
    Am anderen Ende der Leitung klingelte es lange, aber sie wartete. Irgendwann musste doch jemand an den Apparat gehen – Anselmo, Cosimo, der Gärtner, wer auch immer. Und …
    »Ja?«
    Die Stimme am anderen Ende klang heiser und verschlafen.
    »Anselmo?«
    »Anne!? Sind Sie das? Wissen Sie, wie spät es ist? Es ist …«
    »Ich weiß, ich besitze auch eine Uhr«, unterbrach sie ihn. »Ich will Cosimo sprechen.«
    »Jetzt? Aber …«
    »Holen Sie ihn. Auf der Stelle, ich …«
    Im Hintergrund hörte sie eine andere Stimme, und dann wurde Anselmo der Hörer aus der Hand genommen.
    »Anne?« Offensichtlich hatte das ausdauernde Klingeln auch Cosimo aus dem Schlaf geweckt. »Sind Sie
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