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Die Visionen von Tarot

Die Visionen von Tarot

Titel: Die Visionen von Tarot
Autoren: Piers Anthony
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Gelegenheit seine Worte wählte. Pfarrer Siltz hatte Bruder Paul die Wahl gelassen, nur über diejenigen Punkte zu reden, die zu erwähnen er wünschte, hatte das Schicksal des Kindes nur gestreift und keine Privatmeinung über Amaranth verkündet. Der kommunistische Pfarrer war ein fähiger Redner. Und ein guter Politiker.
    Nun wandte sich Siltz an Bruder Paul. „Wir haben bei diesem Treffen nur zwei Regeln: Wir vergleichen nicht die Verdienste der einzelnen Religionen miteinander, und der Redner hat das Recht, so lange zu sprechen, bis er seinen Platz an einen anderen weitergibt. Jene, die nach Ihnen diesen Platz einnehmen wollen, lassen dies durch ein Handzeichen erkennen, und Sie müssen unter ihnen einen auswählen. Ich übergebe nun an Sie.“ Und er machte sich auf den Weg vom Holzstapel herab.
    Was für Regeln! „Ich kann Ihnen nur recht allgemein mitteilen, was innerhalb der Animation geschah“, begann Bruder Paul. „Und warum ich meiner Meinung nach gescheitert bin. Ich ziehe es vor, nicht in die Details zu gehen, denn es wurde unangenehm persönlich.“ Einen Moment lang glaubte er, Kot zu riechen. Vereinzelt zeigte sich ein Lächeln. Viele dieser Leute wußten, was es mit den Animationen auf sich hatte, wenn sie es auch vielleicht nicht so ausgiebig zu spüren bekommen hatten wie er. „Es scheint, daß eine Animation, wenn mehrere Leute daran teilnehmen, zu einer Art Spiel wird, dessen Elemente sich aus den Gedanken der Mitspieler bilden. Wenn es nur um eine Person geht, handelt es sich wohl um ein ständiges Feedback von deren Hoffnungen und Ängsten, die so lange auf die Spitze getrieben werden, bis diese Person vernichtet ist. Wenn es sich aber, wie in diesem Fall, um mehrere Teilnehmer handelt, tragen alle das ihre dazu bei, und bis zu einem gewissen Ausmaß vermischt dies die Feedbacks und verhindert unheilvolle Intensivierungen eines einzigen Themas. Aber das Ergebnis ist unvorhersehbar, weil sich der Wille der einzelnen Spieler überschneidet. Die Ereignisse in einer Animation kennen ihre eigene Realität: Wenn eine Person etwas sieht, sehen alle anderen es genauso wie er, selbst wenn es keine objektive Realität ist – oder die Realität ist sehr verschieden von dem, was sie eigentlich ist“. Er hielt inne. „Ich fürchte, das klingt verworren. Ich meine, wenn eine Person einen verbrannten Baumstumpf für ein Haus hält, werden andere es ähnlich wahrnehmen; und sie können es berühren oder mit den anderen Sinnen verifizieren. Es ist für die Dauer der Animation ein richtiges Gebäude.“
    Bruder Paul sah sich um und erkannte, daß man ihn verstand. Hier standen schließlich auch keine Neulinge auf diesem Gebiet. „Wenn zwei Leute in der Animation miteinander kämpfen, teilen sie richtige Schläge aus, als nähmen sie einander als Fremde oder gar als Ungeheuer wahr. Und wenn sich ein Mann und eine Frau lieben …“ Er zuckte die Achseln. „Ich habe derartige Dinge getan. Ich bin nicht stolz auf meine Leistung. Einige meiner Szenen waren absolut phantastisch, andere Rückblicke auf vergangene Stationen meines Lebens, die ich vergessen oder verdrängt hatte. Ich hatte nicht vorgehabt … diese Dinge zu tun oder mich an sie zu erinnern. Ich stellte mich als schwächerer Deuter heraus, als ich gedacht hatte.“ Deuter war nicht ganz das richtige Wort, aber die perfekten Sätze kamen nicht immer, wenn man sie brauchte. „Ich kann als Erklärung nur meine Theorie von der Animationspräzession bieten : Daß das menschliche Hirn eine unendlich komplexe Sache von psychischer Masse und Trägheit ist, gewichtet und belastet durch ein Leben voller Erfahrungen. Wenn es unter Druck steht, gibt es der Kraft nicht direkt nach, sondern verschiebt sich in eine unerwartete Richtung. Ich hatte gedacht, Gott zu finden – statt dessen fand ich … Scham. Ich weiß es nicht, und es ist mir gleichgültig, was ich gefunden hätte, wenn ich Scham gesucht hätte.“ Er lächelte kurz. „So habe ich keinen Beweis, ob ein Gott von Tarot existiert oder wie er beschaffen ist. Ich bin sicher, meine Erfahrung hat Gott nicht geleugnet, aber sie hat ihn sicher auch nicht bestätigt. Es tut mir leid.“
    Bruder Paul blickte sich um in der Hoffnung auf eine Wortmeldung. Lee fing seinen Blick auf. „Ich gebe das Redepult dem Beobachter Lee von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.“
    „Danke, Bruder Paul“, sagte Lee. Er trat auf den Holzstapel: ein gutaussehender junger Mann in der Morgensonne.
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