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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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durch das Summen des Quälgeistes hindurch drängten sich die Stimmen seinen Ohren unabweisbar auf. Sie waren so überaus persönlich und so scharf voneinander unterschieden, daß Gabriel diese Stimmen zu sehn vermeinte.
    Die erste, ein fetter Baß. Zweifellos ein selbstbewußter Charakter, der den größten Wert darauf legte, alles zu wissen, was vorging, womöglich noch vor den zuständigen Beamten. Dieser Mann der Informiertheit besaß seine heimlichen Quellen:
    »Die Engländer haben ihn in einem Torpedoboot von Zypern an die Küste geschickt … Bei Oschlaki war das … Der Mann hat Geld und Gewehre gebracht und sieben Tage das Dorf aufgewiegelt … Die Saptiehs haben natürlich von nichts gewußt … Ich kenne sogar den Namen … Köschkerian heißt das unreine Schwein …«
    Die zweite Stimme, hoch und ängstlich. Ein älteres, friedfertiges Männchen gewiß, das sich sträubt, an das Böse zu glauben. Diese Stimme hatte gewissermaßen einen kleineren Wuchs als die anderen und sah zu ihnen auf. Für ihre lustvollen Schmerzlaute benützte sie den erhabenen Vers des Korans als unterlegten Text:
    »La ilah ila ’llah … Gott ist groß … Das geht ja nicht … Vielleicht aber ist es nicht wahr … la ilah ila ’llah … Man redet sehr viel … Es wird auch nur ein Gerede sein …«
    Der fette Baß, verachtungsvoll:
    »Ich besitze sehr ernste Briefe einer hohen Persönlichkeit … eines treuen Freundes …«
    Dritte Stimme. Ein schnarrender Scharfmacher und politischer Kannegießer, dem es rechte Freude zu machen schien, wenn es auf der Welt drunter und drüber ging:
    »Das kann man sich nicht länger gefallen lassen … Es muß ein Ende gemacht werden … Wo bleibt die Regierung? … Wo bleibt Ittihad? … Das Unglück ist die Wehrpflicht … Man hat das Pack noch bewaffnet … Jetzt sehet zu, wie ihr mit ihnen fertig werdet … Der Krieg … Ich rede mir schon seit Wochen die Lunge aus dem Leib …«
    Vierte Stimme, sorgenbeschwert:
    »Und Zeitun?«
    Das friedfertige Männchen:
    »Zeitun? Wie das? … Allmächtiger? … Was gibt es denn in Zeitun?«
    Der Scharfmacher, bedeutungsvoll:
    »In Zeitun? … Die Nachricht ist in der Lesehalle des Hükümet angeschlagen … Jeder kann sich überzeugen …«
    Der informierte Baß:
    »In diesen Lesehallen, welche die deutschen Konsuln überall eingeführt haben …«
    Von der entferntesten Pritsche her unterbrach eine fünfte Stimme:
    »Die Lesehallen haben wir selbst eingeführt.«
    Ein dunkler Rauch von unverständlichen Anspielungen:
    »Köschkerian … Zeitun … Es muß ein Ende gemacht werden.« Gabriel aber verstand, ohne die Einzelheiten zu verstehen. Während der Badeknecht die Fäuste in seine Schultern bohrte, drangen ihm die Türkenstimmen überlaut in die Ohren wie Wasser. Peinliche Scham! Er, der noch vor kurzer Zeit mit Blicken des Widerwillens an den armenischen Händlern des Bazars vorübergegangen war, fühlte sich nun verantwortlich und in das Schicksal dieses Volkes hineinverwickelt.
    Der Herr auf der entferntesten Pritsche hatte sich indessen ächzend erhoben. Er raffte seinen Burnus, der als Bademantel dient, und machte auf Watschelfüßen ein paar Schritte in den Raum. Gabriel konnte nur sehn, daß er sehr groß und dick war. Seine Art, zusammenhängend zu reden, und die Art der anderen, ihn widerspruchslos anzuhören, ließ darauf schließen, daß man einen Hochmögenden vor sich hatte:
    »Man tut der Regierung unrecht. Politik läßt sich nicht mit Ungeduld allein machen. Die Verhältnisse liegen ganz anders als sich die Unwissenden im Volke einbilden. Verträge, Kapitulationen, Rücksichten, das Ausland! Ich kann aber den Beys vertraulich mitteilen, daß vom Kriegsministerium, von seiner Exzellenz Enver Pascha selbst, Befehle an die Militärbehörden ergangen sind, melun ermeni millet (die verräterische Armeniernation) zu entwaffnen, das heißt die Eingerückten aus dem Liniendienst zurückzunehmen und nur zu niedriger Arbeit zu verwenden. Straßenbau oder Lasttragen. Dies ist die Wahrheit! Doch es soll von ihr nicht gesprochen werden.«
    Das darf ich nicht hinnehmen, das kann ich nicht dulden, sagte sich Gabriel Bagradian. Leise mahnte die Gegenstimme: Du bist selbst der Verfolgte. Eine dunkle Kraft aber, die ihn von der Pritsche hob, entschied diesen Kampf. Er schüttelte den Badeknecht ab und sprang auf die Steinfliesen. Mit dem weißen Tuch verhüllte er sich um die Hüften. Das zornglühende Gesicht mit
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