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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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war so, als ginge von diesen Händen ein matter Heiligenschein aus:
    »Es ist die böseste Lehre, die eigene Schuld im Nachbarn zu suchen.«
    »Gott segne dich! Die eigene Schuld im Nachbarn suchen. Diese Lehre beherrscht Europa. Heute aber habe ich leider erfahren müssen, daß sie auch unter Moslems und Türken ihre Anhänger hat.«
    »Welche Türken meinst du?« Die Finger des Agha hielten jäh im Zählen des Rosenkranzes inne: »Meinst du das lächerliche Nachahmerpack in Stambul? Und die Nachahmer dieser Nachahmer? Die Affen in Frack und Smoking? Diese Verräter, diese Atheisten, die das Weltall Gottes vernichten, nur um selbst zu Macht und Geld zu kommen? Das sind keine Türken und keine Moslems, sondern nur leere Lästerer und Geldschnapper.«
    Gabriel nahm die winzige Kaffeetasse zur Hand, in der nur mehr der dicke Satz schwamm. Eine Geste der Verlegenheit:
    »Ich bekenne, daß ich mit diesen Leuten vor Jahren zusammengesessen bin, weil ich von ihnen das Gute erwartet habe. Ich hielt sie für Idealisten und vielleicht waren sie es damals auch. Die Jugend glaubt immer an alles Neue. Heute aber muß ich die Wahrheit leider so sehn wie du sie siehst. Vorhin war ich im Hamam Zeuge einer Unterhaltung, die mich tief bekümmert. Sie ist der Grund, warum ich dich schon zu dieser unpassenden Stunde aufgesucht habe.«
    Der Klarsinn des Agha brauchte keinen deutlicheren Hinweis:
    »War von dem geheimen Heeresbefehl die Rede, der die Armenier zum Last- und Straßendienst erniedrigt?«
    Gabriel Bagradian entzifferte die Blumenrätsel des Teppichs zu seinen Füßen:
    »Ich habe noch an diesem Morgen die Ordre erwartet, die mich zu meinem Regiment einberuft … Dann wurde auch noch von der Stadt Zeitun gesprochen. Hilf mir! Was geht eigentlich vor? Was hat sich ereignet?«
    Mit Gleichmut liefen die Bernsteinkugeln wieder durch die Finger des Agha:
    »Was Zeitun betrifft, bin ich gut unterrichtet. Es hat sich ereignet, was sich in den Bergen dort alltäglich ereignet. Irgend eine Geschichte mit Räubergesindel, Deserteuren und Saptiehs. Unter den Deserteuren waren ein paar Armenier. Niemand hat früher auf Derartiges geachtet …« Langsamer werdend fügte er hinzu:
    »Aber was sind Ereignisse? Sie sind nur das, was die Auslegung aus ihnen macht.«
    Gabriel drohte aufzufahren:
    »Das ist es ja! In der Einsamkeit, in der ich lebe, habe ich nichts davon erfahren. Niederträchtige Auslegungen werden versucht. Welche Absichten hat die Regierung?«
    Der Weise schob diese erregten Worte mit einer erschöpften Handbewegung zur Seite:
    »Ich werde dir etwas sagen, Freund und Sohn meines Freundes. Über euch schwebt ein großes karmatisches Verhängnis, denn mit einem Teil eurer Wohnsitze gehört ihr zum russischen Reich, mit dem anderen Teil zu uns. Der Krieg zerschneidet euch. Ihr seid zerstreut über die Länder … Doch weil in der Welt alles verbunden ist, so sind auch wir eurem Verhängnis unterworfen.«
    »Wäre es da nicht besser, wie wirs im Jahre 1908 versucht haben, nach Ausgleich und Versöhnung zu streben?«
    »Versöhnung? Auch dies ist nur ein leeres Wort der Weltklugen. Auf Erden gibt es keine Versöhnung. Wir leben hier im Zerfall und in der Selbstbehauptung.«
    Um diese Anschauung zu bekräftigen, zitierte der Agha mit vorschriftsmäßigem Singsang einen Vers der sechzehnten Sure:
    »Und was Er schuf auf Erden, verschieden an Farbe, siehe, ein Zeichen ist wahrlich darin für Leute, die sich warnen lassen.«
    Gabriel, der es auf dem Diwan nicht länger aushielt, stand auf. Die Augen des Alten aber, die solche Willkür erstaunt rügten, zwangen ihn wieder auf seinen Sitz.
    »Du willst die Absichten der Regierung erkennen? Ich weiß nur, daß die Atheisten in Stambul den nationalen Haß für ihre Zwecke brauchen. Denn das tiefste Wesen der Gottlosigkeit ist Furcht und die Ahnung des verlorenen Spieles. Und so errichten sie in jeder kleinen Stadt Nachrichtenhallen, um ihren bösen Willen zu verbreiten … Es ist gut, daß du zu mir gekommen bist.«
    Gabriels Rechte umkrampfte die Kassette mit den Münzen:
    »Wenn es nur um mich ginge! … Doch, wie dir bekannt ist, stehe ich nicht allein. Mein Bruder Awetis ist kinderlos gestorben. Folglich ist mein dreizehnjähriger Sohn der Letzte unserer Familie. Auch habe ich eine Frau aus dem französischen Volk geheiratet, die nicht unschuldig in ein Leiden gestürzt werden darf, das sie nichts angeht.«
    Dieses Argument wies der Agha nicht ohne Strenge zurück:
    »Da du sie
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