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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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Aber wie? Der unaufhaltsam gleichmäßige Menschenstrom des Bazars machte ihm die Heimat streitig. Er spürte es, obgleich die in sich versunkenen Gesichter ihn gar nicht anblickten. Und der junge Müdir? Er hatte sich höchst korrekt und höflich benommen. »Die hochansehnliche Familie Bagradian.« Doch Gabriel glaubte jetzt mit einem Schlag zu erkennen, daß diese ganze Höflichkeit samt ihrer hochansehnlichen Familie eine einzige Impertinenz war. Ja mehr als das, Haß, in gebildete Formen verkleideter Haß. Und derselbe Haß umflutete ihn hier. Er brannte ihm auf der Haut, er verletzte seinen Rücken. Und wirklich sein Rücken war voll plötzlicher Furcht wie der eines Verfolgten, ohne daß sich eine Menschenseele um ihn kümmerte. In Yoghonoluk, in dem großen Haus, bei sich selbst, da wußte er von alledem nichts. Und früher in Paris? Dort hatte er trotz alles Wohlbefindens in dem kühlen Zustand eines eingewanderten Fremden gelebt, der anderswo wurzelt. Wurzelte er hier? Jetzt erst, in diesem elenden Bazar seiner Heimat, konnte er den absoluten Grad seiner Fremdheit auf Erden ganz ermessen. Armenier! Uraltes Blut, uraltes Volk war in ihm. Warum aber sprachen seine Gedanken öfter französisch als armenisch, wie zum Beispiel jetzt? (Und doch hatte er an diesem Morgen eine deutliche Freude empfunden, als sein Sohn ihm armenisch antwortete.) Blut und Volk! Ehrlich sein! Waren das nicht auch nur leere Begriffe? In jedem Zeitalter streuen sich die Menschen andre Ideen-Gewürze auf die bittere Lebensspeise, um sie noch ungenießbarer zu machen. Eine Seitengasse des Bazars öffnete sich vor seinen Blicken. Dort standen zumeist Armenier vor ihren Läden und Verkaufsständen: Geldwechsler, Teppichhändler, Juweliere. Dies also waren seine Brüder? Diese verschlagenen Gesichter, diese irisierenden Augen, die auf Kundschaft lauerten? Nein, für diese Bruderschaft dankte er, alles in ihm wehrte sich dagegen. War jedoch der alte Awetis Bagradian ehemals etwas andres und besseres gewesen als solch ein Bazarhändler, wenn auch weitblickender, begabter, energischer? Und hatte er es nicht dem Großvater allein zu verdanken, daß er nicht so sein mußte, wie dieser und wie jene hier? Er ging, von Widerwillen geschüttelt, weiter. Dabei wurde es ihm bewußt, daß eine große Schwierigkeit seines Lebens in dem Umstand lag, daß er manches schon mit den Augen Juliettens sah. Er war also nicht nur in der Welt, sondern auch in sich selbst ein Fremder, sobald er mit den Menschen in Berührung kam. Jesus Christus, konnte man denn nicht ein Mensch an sich sein? Frei von diesem schmutzigen feindlichen Gewimmel, wie heute morgen auf dem Musa Dagh?
    Nichts war entnervender als solch eine Probe auf die eigene Wirklichkeit! Gabriel floh den Usun Tscharschy, den langen Markt, wie der Bazar im Türkischen hieß. Den feindseligen Rhythmus konnte er nicht länger ertragen. Dann stand er auf einem kleinen, von neueren Bauten gebildeten Platz. Ein hübsches Gebäude trat hervor, Hamam, das Dampfbad, wie überall in der Türkei mit einiger Verschwendung errichtet. Es war noch zu früh für den Besuch beim alten Agha Rifaat Bereket. Da es ihn auch nicht gelüstete, in eines der zweifelhaften Speisehäuser einzukehren, trat er in das Badehaus.
    Zwanzig Minuten verbrachte er in der großen allgemeinen Schwitzhalle, in dem langsam steigenden Gewölk, das nicht nur die Körper der anderen Badenden gespenstisch entfernte, sondern auch seinen eigenen Leib von ihm selbst fortzutragen schien. Es war wie ein kleiner Tod. Er fühlte die undurchsichtige Bedeutung dieses Tages. Die Tropfen rannen an seinem fernen Körper hinab und mit ihnen ein mühsamer Glaube, an dem er bisher festgehalten hatte.
    Im kühlen Nebenraum legte er sich auf eine der leeren Pritschen, um sich der üblichen Behandlung anheimzugeben. Ihm war, als sei er jetzt nackter, wenn man das sagen darf, als vorhin im Dampf. Ein Badeknecht warf sich auf ihn und begann nach allen Regeln der Kunst, die wirklich eine war, sein Fleisch zu kneten. Mit trillernden Schlägen spielte er auf seinem Rumpf wie auf einem Zymbal. Zu dieser Begleitung summte er keuchend. Auf den Nachbarpritschen wurden einige türkische Beys in ähnlicher Weise bearbeitet. Sie schickten sich mit wohligen Wehlauten in den zornigen Eifer der Badeknechte. Zwischeninne – von jenen Schmerzlauten unterbrochen – führten die Stimmen in abgerissenen Sätzen eine Unterhaltung. Gabriel wollte zuerst gar nicht hinhorchen. Aber
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