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Die Verfolgerin - Roman

Die Verfolgerin - Roman

Titel: Die Verfolgerin - Roman
Autoren: edition 8
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blonden Haaren am Nachbartisch hat ihren Kopf auf die rechte Hand gestützt und ihr Gesicht dem jungen Mann, der neben ihr sitzt, zugewendet. In die Nase des jungen Mannes führt ein Schlauch. Der ist mit einer Sauerstoffflasche, die neben ihm steht, verbunden. In welchem Verhältnis steht der junge Mann zu der Frau? Sie müssen Geschwister sein. Die Frau sieht aus wie eine Moderatorin aus dem Fernsehen. Ihre Haut ist glatt. Sie hat lange Finger, die sie graziös bewegt. Ihre Lippen sind geschwungen und ihr Blick ist klar. Der junge Mann ist blass, hat unreine Haut. Er weicht ihrem Blick aus. Er bemüht sich, die Traurigkeit aus seinem Blick zu bekommen. Er schaut sich um. Was sieht er? Die Menschen vor ihm an den Tischen? Den Kellner, der dem Mann im Pelzmantel mit den lockigen Haaren eine Tasse Espresso reicht?
    Die beiden eignen sich nicht für mein Vorhaben. Das liegt am Ausdruck in ihren Gesichtern, in ihren Bewegungen. Sie hören sich zu, sie sehen sich an, sie nehmen aneinander Anteil. Anteilnahme – ein Wort das auf Beerdigungskarten geschrieben steht. Ich bestelle bei dem Kellner, den eben noch der junge Mann mit dem Schlauch in der Nase beobachtet hat, einen Espresso. Er bringt ihn kurz darauf. Ich verfolge meine Gedanken weiter. Sie kommen in Bildern: Ein kleines Mädchen liegt in einem Bett, in dessen Kopfende ein Herz ausgeschnitten ist, und verfolgt, wie die Sonnenstrahlen sich langsam aus dem Zimmer zurückziehen, wie erst Dämmer, dann Dunkelheit sich im Raum ausbreiten. Das kleine Mädchen glaubt, dass sich in der Dunkelheit jemand verborgen hält. Das kleine Mädchen kann den, der sich in der Dunkelheit verbirgt, atmen hören, seine Anwesenheit spüren. Das fühlt sich heiss und kalt an, als wäre die Haut mit Strom aufgeladen. Ihm ist klar: Im Zimmer befindet sich ein Mann, der das kleine Mädchen töten will. Wenn er das Mädchen nicht tötete, dann würde es seine Angst töten. Sein Verstand sagte ihm, dass es niemanden geben kann, der ein kleines braves Mädchen umbringen will. Mörder haben immer einen Grund, jemanden umzubringen. Sein Bruder, der als Rivale ein Motiv hätte haben können, war noch ein Baby. Ein Baby, das ein finsteres Gesicht hatte, das dunkle Haare umrahmten und dessen Gesichtshaut sich dunkelrot färbte, wenn es schrie. Unerbittlich war dieses Schreien und das kleine Mädchen nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass seine Mutter es auch nicht mochte. Der Gedanke, dass Mörder immer ein Motiv haben, führte das kleine Mädchen zu einem weiteren Gedanken. Der lautete so: Wenn einer ohne Motiv tötete und er keine Spuren hinterliesse, dann wäre er nicht zu fassen. Das kleine Mädchen im Bett mit dem Herz war ich. Im Alter von fünf Jahren.
    Ich widme mich meinem Espresso. Ich teile ihn in zwei Schlucke, rühre, um den Zucker aufzulösen. Ich trinke den letzten Schluck. Der ist süss wie Sirup mit einem bitteren Nachgeschmack. Sind meine Gedanken real oder fiktiv, eingebildet oder nicht eingebildet? Aber was sind sie dann, wenn ich sie nach siebenunddreissig Jahren abrufen kann? Der Kellner sieht meinen Arm in der Luft nicht, sieht nicht, dass ich Zeichen zum Zahlen gebe. Ich gehe an die Bar, um die Rechnung zu begleichen.

2
    Am Abend sitzen alle am Eichentisch im Esszimmer – die beiden Jungen, der Mann, ich. Der Mann schiebt seinen Teller beiseite, greift nach dem Bierglas, lehnt sich auf dem Stuhl zurück, nimmt einen Schluck, lässt dann aus seinem Mund Luft ausströmen und sagt: Vielleicht geht heute Abend was? Er schaut mir dabei auf den Schoss, blinzelt mit den Augen und lächelt. Ich sitze neben ihm. Die beiden Jungen sind aufgestanden. Der jüngere, um in sein Zimmer zu gehen, der ältere, um sich Fleisch aus der Küche zu holen. Ich hatte Putenschnitzel gebraten, Reis und Bohnengemüse dazu bereitet. Als der ältere wieder am Tisch sitzt, erzählt er, dass er am Wochenende mit Freunden im Bordell war. Nicht so, wie ihr denkt, sagt er lachend. Wenn er lacht, dann gluckst er und seine Augen glänzen. Er schaut dann in die Augen der Anwesenden und bei dem, der seinen Blick erwidert, verweilt er. Als er ein kleiner Junge war, bestand sein Gesicht aus grossen traurigen Augen, die niemandes Blick suchten. Ich habe viel darüber nachgedacht woran das lag. Wenn ihm, dem kleinen Jungen, jemand seine Hand reichte, ihn begrüsste, dann sah er mit seinen grossen traurigen Augen auf den Boden oder an ihm vorbei nirgendwohin. Ich erklärte ihm, dass er in die Augen das anderen
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