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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Peter Wensierski
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soll jeder lesen können.
    Jens will mindestens zwei Wochen warten, bevor er in die Botschaft geht und sich den westdeutschen Pass holt.
    So kannst du unbesorgt zurück in die Rykestraße gehen und wirst dort nicht schon von der Stasi erwartet. Denn wahrscheinlich erfahren sie durch ihre Informanten in westdeutschen Behörden sofort, dass ich hier in der Botschaft war und nicht mehr nach Hause zurückkehre. Bevor die Leute mir hier einen Pass ausstellen, müssen sie Erkundigungen einziehen, und das bleibt bei der Stasi sicher nicht unbemerkt. Aber vielleicht fallen sie ja auf die Postkarten rein und lassen dir damit etwas Zeit. So wie ich sie einschätze, fangen sie die Post ab. Gehst du zu meinen Eltern und erzählst ihnen alles? Am besten beim Spazierengehen im Park?
    Marie nickte. Natürlich, das mache ich gern.
    AM NÄCHSTEN TAG brechen sie zum Bahnhof auf. Sie schweigen. Sie haben alles besprochen.
    Es ist Mittag und unerträglich heiß. Beinahe kommen sie zu spät.
    Es wimmelt von Menschen, und sie müssen sich durch die Menge drängen, um den Bahnsteig zu erreichen. Der Zug steht noch im Bahnhof, aber die Schranke vor dem Bahnsteig wird schon geschlossen.
    Jens nimmt Marie noch schnell in den Arm, flüstert ihr etwas ins Ohr und küsst sie nur kurz, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen.
    Marie geht, dreht sich immer wieder um, dann verschwindet sie im Gewühl hinter den Sperren.
    Jens bleibt noch eine Weile im Bahnhof stehen, dann macht er sich auf den Weg zurück in die Stadt.
    Monatelang sind sie zu zweit unterwegs gewesen. Diesmal ist es keine Trennung für ein paar Tage. Er spürt eine Leere an seiner Seite, die ihm mit jedem Schritt, den er weiter durch die Menschenmassen in den Straßen geht, deutlicher wird.
    MARIES ZUG hat Peking längst verlassen. Sie sitzt in ihrem Abteil am Fenster und schaut zu, wie sich die Dämmerung über das Land legt. In den Kurven, die nur langsam durchfahren werden, kann sie von ihrem Platz aus sehen, wie lang der ganze Zug ist.
    So wie die Schranke am Bahnhof von Peking geht nun eine Grenze nach der anderen hinter ihr zu. Von China zur Mongolei, von der Mongolei nach Russland. Jedes Mal hat sie nur einen Gedanken: Hier komme ich nie wieder hin.
    Der Abschied von der Mongolei fällt ihr besonders schwer.
    Kurz vor der russischen Grenze erblickt sie noch einmal weiße Punkte, aus denen Rauch aufsteigt, und wünscht sich zu den Menschen hin, die in den Jurten sitzen, aus ihren Schalen Tee trinken und dem Herdgeist etwas davon abgeben.
    Ihre Fahrkarte reicht bis Irkutsk. Dort gibt sie die Postkarten von Jens auf. Ihr nächstes Ziel ist Moskau. Sie bekommt zufällig mit, dass ein Zug der Transsibirischen Eisenbahn, der bis auf das Personal vollkommen leer ist, von Irkutsk bis Moskau fährt. Die Eisenbahner nehmen sie ohne Fahrkarte mit. In dem Geisterzug ist sie der einzige Fahrgast. Tag und Nacht fährt sie durch die Taiga und die endlosen Birkenwälder.
    In Moskau wechselt sie den Zug ohne längeren Aufenthalt. In der polnischen Hauptstadt Warschau geht sie zur Botschaft der DDR und erzählt den Botschaftsangestellten, ihr Ausweis sei gestohlen worden. Sie benötige einen Ersatzausweis. Den Pass erwähnt sie nicht, denn der Einreisestempel für die verbotene Reise nach China hätte sie verraten. Sie hat den Pass verbrannt, dabei hätte sie ihn gerne aufgehoben, er hatte noch so viele leere Seiten. Auf Andenken aus China hatte sie aus demselben Grund ebenfalls verzichtet. Sie hätte so gerne solche silbrig glänzenden Kugeln mitgenommen, wie sie die alten Männer hatten, die damit unablässig in ihrer Hand spielten.
    Der Zug passiert an der Oder die deutsche Grenze, aus dem Fenster betrachtet sie die Wiesen und Kiefernwälder. Ein fremder, vertrauter Anblick. Marie blickt in die Gesichter der anderen Menschen im Abteil und weiß, sie trägt nun ein großes Geheimnis in sich. Der Gedanke daran und wie lange es eins bleiben wird, ist ihr unheimlich.
    TAUSENDE KILOMETER entfernt sitzt Jens in Peking in einem schattigen Park unter einem Baum. Seine Tasche auf den Knien, hat er begonnen, auf feinem chinesischem Papier einen Brief zu schreiben.
    Sieben Tage sind vergangen, seitdem ich Dich zum letzten Mal umarmt habe, meine liebe Marie.
    Ich halte es kaum noch aus, Du fehlst mir so sehr. So oft und so viel wie seit unserem Abschied habe ich wohl noch nicht geweint. Hätte ich diese Trennung nie zulassen sollen? War es ein Zeichen des Himmels, dass Du den Zug fast verpasst hättest?
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