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Die Vagabundin

Die Vagabundin

Titel: Die Vagabundin
Autoren: Astrid Fritz
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angesehener Patrizier das Geld unter Verschluss und kein dem Spiel und Suff ergebener Stadtbüttel.
    Solcherlei Grübeleien ergriffen mehr und mehr von ihr Besitz und drehten sich, ihrem Spinnrad gleich, im Kreis. Immer häufiger tauchten dabei die Stunden an der Seite ihres Oheims aus der Vergangenheit auf, immer deutlicher hatte sie plötzlich wieder die Schneiderwerkstatt damals in Glatz vor Augen. Dorthin, in diesen hellen Raum voll prächtiger Stoffe und Bänder und Spitzen, hatte sie sich als Kind oft geflüchtet, wenn der Stiefvater wieder mal einen seiner Wutausbrüche gehabt oder am helllichten Tag die Mutter in der Schlafstube bestiegenhatte, mit lautem Grunzen und diesem widerlich klatschenden Geräusch.
    In jener Werkstatt hatte sie auch zum ersten Mal ihr Gesicht in einem kostbaren Glasspiegel betrachtet, der dort an der Wand hing. Als viel zu breit hatte sie ihren Mund empfunden, als zu kräftig die gerade Nase. Und dann diese albernen Locken! Warum hatte sie nicht das dichte, glatte Blondhaar ihrer Schwester, das den Männern so gut gefiel?
    Sie hatte damals in der Werkstatt ein und aus gehen dürfen, die warmherzigen Meistereltern, die selbst kinderlos waren, hießen sie jederzeit willkommen. Von ihrem Oheim lernte sie Nähen und das Zuschneiden einfacher Schnitte, durfte auch bei den weiblichen Kunden die Anprobe durchführen, und mehr als einmal hatte der alte Schneidermeister ihr gesagt: «Dich würd ich sofort an Kindes statt annehmen – wärest du nur ein Junge!»
    Irgendwann dann hatte sie von ihrem älteren Bruder erfahren, dass es im fernen Frankreich tatsächlich Meisterinnen gab, die sich in eigenen Zünften organisierten – angesehene Damenschneiderinnen, Weißnäherinnen, Gold- und Seidenspinnerinnen. Hier in Deutschland hingegen mussten Frauen, die solcherlei Handwerke ausübten, für kärglichen Taglohn arbeiten und wurden dabei von den zünftigen Meistern und Gesellen auch noch angefeindet und geschurigelt, als Störer und Pfuscher geschmäht. Seitdem hatte Eva einen Traum: den Traum von einer eigenen Werkstatt, in der sie selbst das Sagen hatte. Nicht wie die Mehrzahl der Schneider als Kleinmeister, als armes Schneiderlein, sondern als Meisterin über Gesellin und Lehrtochter, mit denen sie feinste Gewänder für vornehme Patrizierfrauen fertigen wollte. Und zwar dort, in jenem fernen welschen Reich, das gleich hinter Straßburg, der neuen Heimat ihres Bruders, begann.
     
    Der Sommer endlich machte alles ein wenig erträglicher: An schönen Tagen stellte Eva ihr Spinnrad in den winzigen Hof, in den sich zwar kaum ein Sonnenstrahl verirrte, doch das Morgen- und Abendkonzert der Vögel war zu hören, und sie sah den Wind in den Blättern der Weide spielen, die vom Nachbarhof her ihre Zweige über die Mauer streckte. Hin und wieder kam die Hoblerin auf ein Stündchen vorbei und half ihr beim Garnaufwickeln, und wenn Eva dann wieder allein war, sang sie laut vor sich hin und freute sich auf den Abendspaziergang zum Haus des Webers, den sie längst in Muße unternahm.
    So leicht ging ihr inzwischen die Arbeit von der Hand, dass sie wieder einiges an Hausarbeit übernehmen und Niklas ab und an auf die Gasse zum Spielen schicken konnte. Einmal – sie war fast fertig mit ihrer Tagesration Garn – war er schluchzend nach Hause gekommen, Knie und Ellbogen blutig zerschrammt, sein schöner Ball gestohlen. Sie erinnerte sich noch ganz genau an diesen Nachmittag.
    «Wer war das?», hatte sie aufgebracht gefragt, während sie ihm die Wunden reinigte. Der Ball war das einzige Spielzeug ihres kleinen Bruders gewesen.
    «Diese Scheißkerle vom Severinstor! Die sind alle viel älter als ich und waren zu fünft. Als ich den Ball nicht hergeben wollt, haben sie mich über die Gasse geschleift, bis ich halt losgelassen hab. Au! Das tut weh!»
    «Bin gleich fertig.»
    «Adam hätt das viel besser gekonnt», maulte Niklas. «Außerdem würd er dieses Schelmengesindel jetzt verprügeln.»
    «Adam ist aber nicht hier, sondern weit weg und außerdem ein Verräter!»
    «Das ist nicht wahr! Mir hat er gesagt, dass er wiederkommt. Dass er mich besuchen will.»
    «Denkst du etwa, dieses Straßburg liegt hier um die Ecke?Dass er grad mal auf einen Sonntagsspaziergang hier vorbeigeschneit kommt? O nein! Das hat er nur gesagt, um dich zu trösten.»
    Da wurde Niklas ganz still und sah sie aus großen Augen an. Schließlich flüsterte er: «Dann hat er uns vielleicht längst vergessen, und wir sehen ihn nie
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