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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Autoren: Christoph Marzi
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würde. Sie erinnerte sich kaum an das Lied, das Lilith damals gesungen hatte. Dafür erinnerte sie sich an die Melodie, der sie selbst lauschte. Seit jener Begegnung in der Métro.
    Nein, eigentlich schon seit Brick Lane Market.
    Sollte sie diese Melodie in Worte fassen?
    Jetzt?
    Hier?
    Nein, sie würde …
    Später!
    Emily Laings Stimme, die sicher und fest klang, war ihrerseits nicht mehr als eine Maske. Und als sie den Wüstenwind einatmete, da begann sie mit einem Mal zu verstehen, wie alles enden würde. Ein Kind musste das Lied der Lilith singen, weil auch Lilith in ihrem Innersten nichts anderes war als ein Kind. Das war es, was der Wüstenwind in
ihrem
Innersten hauchte.
    »Emily!«
    Es war Adams Stimme, die jenes Lied gebar, das der Wüstenwind mit wehenden Fingern ergriff und emportrug aus dem klingenden Herzen eines Waisenmädchens.
    »Emily.«
    Adams Stewarts Stimme.
    Die den Namen bereits zuvor ausgesprochen hatte.
    Erst jetzt wurde Emily das bewusst.
    Doch Adam Stewart hatte ihren Namen nicht einfach nur genannt.
    Nein, förmlich gesungen hatte er ihn.
    Es war ein Lied gewesen, das so alt und wunderbar herzzerreißend ehrlich gewesen war, dass es einst die Engel gesungen hatten. Nein, nicht alle Engel. Nur einer aus ihrer Mitte. Lucifer. Er hatte die Melodie vernommen, als er an den Gestaden des Roten Meers zum ersten Mal jene Frau getroffen hatte, die sein Herz entflammt und seinem Leben einen Sinn gegeben hatte.
    Das war die Melodie, die auch Lilith damals gesungen hatte.
    Ein Lied, das Emily kannte.
    Das Emily fühlte, so tief und wahrhaftig, dass es der Wüstenwind hinaustrug in die Hölle.
    Emilys Lippen bewegten sich, und mit der Kraft des Wüstenwindes sang sie das Lied, das einst Liliths Lied gewesen war.
    Ein heller, klarer Gesang war es. In einer Sprache, die schon alt war, als die Welt noch jung war. Eine Melodie so voll des Lichts und der Hoffnung und der Liebe, die bedingungslose Opfer bringt. Töne, die die Welt vernommen hatte, als sie noch ohne Sünde war. Die Worte klangen rein. Erhaben und traurig zugleich. Wie Farben, die sanft verschwimmen, wenn sich die Mittagssonne im Wasser bricht. Wie ein Duft, den man leise spürt, wenn man an vergangene Tage denkt. Wie der Wind, der aus der Wüste kommt und die Ufer des Meeres küsst. Salzig und kühl und so verzweifelt, dass selbst die Wellen sich seiner erbarmen müssen.
    Emily hörte die Stimme, die ihre eigene war.
    Sie sah Bilder, mit einem Mal.
    Hörte Stimmen.
    Lilith, die mit wehendem Haar und nackten Füßen an den Gestaden des Meeres stand. Lucifer, der bei ihr war und der um der Liebe willen allem entsagt hatte, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Der das lange Haar der Frau vom Roten Meer, die ihm das Herz gestohlen hatte, berührte.
    »Saharasand ist blond«, flüsterte er leise jene Worte, die eine verzauberte Melodie waren, die den Himmel hätten entflammen können. Seine Finger liebkosten ihr Haar, und das Feuer in seinen Augen war das Licht kommender Tage.
    »Lilith.«
    Nur ihren Namen, nichts sonst.
    Den Namen, der alles sagte, was von Bedeutung war.
    Emily konnte nicht aufhören zu singen.
    Ja, es war Liliths Lied.
    Aber es war auch ihr eigenes Lied.
    Adams Lied.
    Auroras.
    Es war eine Melodie, so rein und klar, dass selbst der heiße Sand sich zu bewegen begann im Takt der Melodie, die mit einem Mal die Wüstenei erfüllte. Sand wirbelte zu ihren Füßen und bildete Formen. Staub formte Tränen, die zu Augen wurden, so leer. Winzige Dünen erstarrten zu Lippen, Wangen, Nase.
    Liliths Maske schälte sich aus der Wüstenei.
    Jemand, dachte Emily, muss sie tragen.
    Die Maske.
    Lilith.
    Zu dem werden.
    Worauf es ankam.
    »Ich werde sie tragen«, hörte Emily die junge Frau flüstern, die einmal ein Mädchen aus Salisbury gewesen war, das nach Ägypten hatte reisen dürfen. »Deswegen bin ich hierher gekommen.«
    Eliza Holland trat vor.
    Und Emily bemerkte, dass auch Eliza zu singen begonnen hatte.
    Ein Teil des Wüstenwinds war in Eliza gefahren.
    Hatte ihre ganz eigene Melodie gefunden.
    Ein Lied.
    So klar und rein.
    Tibor tauchte in der beschwingten Melodie auf. Ein dunkelhäutiges Mädchen, einsam im Regen. Und wieder Tibor, der sie festhielt.
    Das Surren von Insekten erfüllte die Luft in dem Stadtpark, durch den Eliza mit Tibor an ihrer Seite spazierte. Tibor, wie er in dem Zelt kniete und beim Anblick Elizas wusste, dass er dem Tode geweiht war, weil er sah, was sie nicht wahrhaben wollte. Weil er sah, was aus ihr
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