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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Autoren: Ketil Bjørnstad
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plötzliche enorme Erleichterung.
     
    Sie fuhren hinauf zum South Lake Shore Drive. Die Skyline von Chicago wuchs vor ihnen in die Höhe. Sears Tower und Water Tower mit den häßlichen Spitzen. Er fühlte sich auf einmal sehr fremd hier.
    »Wir müssen unbedingt hinauf auf diese Türme, selbst wenn es einen Schneesturm gibt«, sagte Line.
    »Selbstverständlich«, erwiderte Thomas Brenner.
    »Aber vorher wollen wir an den Strand«, sagte Annika. »Ist das möglich?«
    »Klar ist das möglich«, sagte Elisabeth. Sie bat die Frau am Steuer, die nächste Ausfahrt zu nehmen.
    »Gute Idee«, sagte sie. »Bevor der Sturm anfängt.«
    »Wird er sehr schlimm werden?« fragte Line ängstlich.
    »Schlimm genug«, antwortete die Fahrerin, lächelte aber beruhigend. »Wenn Sie sich drinnen aufhalten, passiert nichts.«
    »Drinnen im Palmer House«, sagte Annika und verneigte sich. »Da kann uns kaum jemand bemitleiden.«
    Das Taxi fuhr bis zum Strand. Eine frische Brise aus Nordost blies ihnen entgegen.
    »Weiter komme ich nicht«, sagte die Taxifahrerin.
    »Das ist weit genug, vielen Dank«, sagte Elisabeth. »Können Sie ein paar Minuten warten?«
    »Ich kann warten bis heute abend, Ma’am.«
    Der Wind schien nicht mehr so kalt. Er hatte seit dem Vormittag merklich nachgelassen. Ruhe vor dem Sturm.
    »Wohin wollen wir?« fragte Line.
    »Nur ein Stückchen gehen«, sagte Elisabeth.
    Sie gingen schweigend. Seite an Seite. Sie gingen nach Norden. Annika legte den Arm um ihren Vater, der neben ihr ging.
    »Ich weiß, warum wir hier sind«, sagte Annika.
    »Du weißt es?« sagte Elisabeth mit einem neugierigen Lächeln.
    »Ja«, sagte sie. »Wir sind hier, damit Mama die Idee für einen neuen Roman bekommt.«
    »Einen Roman, sagst du? Das hätte noch gefehlt!«
    »Rede dich jetzt nicht heraus, Mama. In letzter Zeit hast du viel zu oft in deinem kleinen Büro gesessen. Das kann kein Zufall sein.«
    Thomas Brenner schaute seine Frau an. Ihm fiel plötzlich auf, wie kurzatmig sie war.
    »Ich muß schon sagen, deine Antennen sind fein eingestellt, Annika.«
    »Es darf aber auf keinen Fall ein trauriges Buch werden«, sagte Line. »Saul Bellow schrieb ja fast nur traurige Bücher.«
    »Sag bloß, du hast sie gelesen?«
    »Ich kenne sie alle. Für wen hältst du mich denn? Wie heißt der letzte Satz in Ravelstein ? Richtig. ›Ein Geschöpf wie Ravelstein überläßt man nicht so ohne weiteres dem Tod.‹«
    »Hier ist niemand, der sterben muß«, sagte Elisabeth nachdrücklich.
    »Nein, jetzt nicht«, sagte Annika. »Und darüber sollst du schreiben, Mama. In diesem Moment sind wir die Unsterblichen. In diesem Moment glauben wir daran, daßdas Leben ewig währt. In diesem Moment kann uns nichts passieren.«
    Elisabeth zuckte zusammen. Ein plötzlicher Schmerz. Thomas hatte das in den letzten Tagen mehrmals beobachtet, aber nicht gewagt, etwas zu sagen.
    »Hier ist niemand, der sterben muß«, wiederholte sie.
    Sie standen still da und schnupperten in den Wind. Nicht ein Schiff auf dem See. Er spürte sein Herz hämmern.
    »In diesem Moment …« sagte er und hatte den Satz fertig formuliert im Kopf. Aber er kam nicht weiter. Der Kopf wurde schwer. Er konnte ihn nicht mehr tragen. Er reckte den Arm in die Luft. Wollte unbedingt etwas sagen. Etwas schreien wie sein Vater. Statt dessen wußte er, daß er fallen würde, daß tatsächlich geschah, was er erwartet hatte. Und trotzdem überraschte es ihn, denn es fühlte sich anders an, als er gedacht hatte. Und Annika sah es nicht, begriff es nicht. Als er zu taumeln anfing, legte sie einen eiskalten Finger auf seine Lippen.
    »… ist es zu Ende«, japste er.
    »Papa?«
    Sand wurde aufgewirbelt. Jemand schrie.
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