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Die unendliche Geschichte

Die unendliche Geschichte

Titel: Die unendliche Geschichte
Autoren: Michael Ende
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wahrscheinlich nicht begreifen können, was Bastian jetzt tat.
    Er starrte auf den Titel des Buches, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Das, genau das war es, wovon er schon oft geträumt und was er sich, seit er von seiner Leidenschaft befallen war, gewünscht hatte: Eine Geschichte, die niemals zu Ende ging! Das Buch aller Bücher! Er mußte dieses Buch haben, koste es, was es wolle!
    Koste es, was es wolle? Das war leicht gesagt! Selbst wenn er mehr als die drei Mark und fünfzehn Pfennig Taschengeld, die er bei sich trug,hätte anbieten können - dieser unfreundliche Herr Koreander hatte ja nur allzu deutlich zu verstehen gegeben, daß er ihm kein einziges Buch verkaufen würde. Und verschenken würde er es schon gar nicht. Die Sache war hoffnungslos.
    Und doch wußte Bastian, daß er ohne das Buch nicht weggehen konnte. Jetzt war ihm klar, daß er überhaupt nur wegen dieses Buches hierhergekommen war, es hatte ihn auf geheimnisvolle Art gerufen, weil es zu ihm wollte, weil es eigentlich schon seit immer ihm gehörte!
    Bastian lauschte auf das Gemurmel, das nach wie vor aus dem Kabinett zu hören war. Ehe er sich’s versah, hatte er plötzlich ganz schnell das Buch unter seinen Mantel gesteckt und preßte es dort mit beiden Armen an sich. Ohne ein Geräusch zu machen ging er rückwärts auf die Ladentür zu, wobei er die andere Tür, die zum Kabinett, ängstlich im Auge behielt. Vorsichtig drückte er auf die Klinke. Er wollte verhindern, daß die Messingglöckchen Lärm machten, deshalb öffnete er die Glastür nur so weit, daß er sich gerade eben durchzwängen konnte. Leise und behutsam schloß er die Tür von draußen.
    Erst dann begann er zu rennen.
    Die Hefte, die Schulbücher und der Federkasten in seiner Mappe hüpften und klapperten im Takt seiner Schritte. Er bekam Seitenstechen, aber er rannte weiter.
    Der Regen lief ihm übers Gesicht und hinten in den Kragen hinein. Kälte und Nässe drangen durch den Mantel, doch Bastian fühlte es nicht. Ihm war heiß, aber nicht nur vom Laufen. Sein Gewissen, das sich vorher in dem Buchladen nicht gemuckst hatte, war nun plötzlich aufgewacht. All die Gründe, die so überzeugend gewesen waren, erschienen ihm plötzlich völlig unglaubwürdig, sie schmolzen dahin wie Schneemänner im Atem eines feuerspeienden Drachen.
    Er hatte gestohlen. Er war ein Dieb!
    Was er getan hatte, war sogar schlimmer als gewöhnlicher Diebstahl. Dieses Buch war bestimmt einmalig und unersetzlich. Sicher war es Herrn Koreanders größter Schatz gewesen. Einem Geigenspieler seine einzigartige Violine stehlen oder einem König seine Krone, war noch etwas anderes, als Geld aus einer Kasse nehmen.
    Und während er so rannte, preßte er das Buch unter seinem Mantel an sich. Er wollte es nicht verlieren, wie teuer auch immer es ihn zu stehen kommen würde. Es war alles, was er auf dieser Welt noch hatte.
    Denn nach Hause konnte er jetzt natürlich nicht mehr.
    Er versuchte, sich seinen Vater vorzustellen, wie er in dem großen Zimmer saß, das als Labor eingerichtet war, und arbeitete. Um ihn her lagen Dutzende von Gipsabgüssen menschlicher Gebisse, denn der Vater war Zahntechniker. Bastian hatte sich noch nie überlegt, ob der Vater diese Arbeit eigentlich gern tat. Es kam ihm jetzt zum ersten Mal in den Sinn, aber nun würde er ihn nie mehr danach fragen können.
    Wenn er jetzt nach Hause ging, würde der Vater in seinem weißen Kittel aus dem Labor kommen, vielleicht mit einem Gipsgebiß in der Hand, und würde fragen: »Schon zurück?« »Ja«, würde Bastian sagen. -»Keine Schule heute?« - Er sah das stille, traurige Gesicht seines Vaters vor sich, und er wußte, daß er ihn unmöglich würde anlügen können. Aber die Wahrheit konnte er ihm erst recht nicht sagen. Nein, das einzige, was er tun konnte, war, fortzugehen, irgendwohin, weit weg. Der Vater sollte nie erfahren, daß sein Sohn ein Dieb geworden war. Und vielleicht würde er ja nicht einmal merken, daß Bastian nicht mehr da war. Dieser Gedanke hatte sogar etwas Tröstliches.
    Bastian hatte aufgehört zu rennen. Er ging jetzt langsam und sah am Ende der Straße das Schulhaus liegen. Ohne es zu merken, war er seinen gewohnten Schulweg gelaufen. Die Straße kam ihm geradezu menschenleer vor, obwohl da und dort Leute gingen. Aber für einen, der viel zu spät kommt, erscheint die Welt rings um die Schule herum ja immer wie ausgestorben. Und Bastian fühlte bei jedem Schritt, wie die Angst in ihm zunahm. Er hatte
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