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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Autoren: Gaétan Soucy
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beherrschte dieses Manöver jedoch mittlerweile wie kein Zweiter.
    Auf der anderen Straßenseite, ihrem Haus fast gegenüber, stand ein zehnstöckiges Gebäude. Die Fenster glichen leeren Augenhöhlen, die Garagentore Mündern, ein Friedhof der Schreie. Das Gebäude erinnerte Remouald an die Totempfähle, die auf einigen Briefmarken seiner Sammlung abgebildet waren, er fand darin denselben Ausdruck düsteren Zaubers und erstarrter Transzendenz. Man hätte es für den längst vergangenen Zeugen einer kosmischen Katastrophe halten können, die die Bedeutung aller Dinge verschlungen hatte. Übrig blieb allein eine mumifizierte Welt, ein Gerippe ohne Erinnerung, ähnlich einem im Wüstensand verendeten Tier. Auf dem roten Schild stand in gelben Lettern: ACE BOX. Pappkartons wurden dort hergestellt. Remouald konnte sich schwer eine Fabrik vorstellen, in der nur leere Kartons hergestellt wurden. »Aber man braucht sie ja, man braucht sie ja«, sagte er sich; er versuchte sich all die Dinge auszumalen, die man in einen leeren Karton packen könnte. Aber ein leerer Karton bleibt ein leerer Karton, und diese vernünftigen Gedanken konnten nicht das Gefühl zerstreuen, dass ein Universum, welches einst voller geheimer Botschaften gewesen war, für immer seine Tore geschlossen hatte und dass dieser nicht zu deutende Bau, der blind und stumm den Horizont im Norden verstellte, den Grabstein bildete.
    Als sie wieder vor ihrer Haustür standen, musste Remouald Séraphon auf den Arm nehmen, ihn in den zweiten Stockhinaufbringen und die Vorhaltungen ertragen, die dieser ihm jedes Mal aufs Neue ob seiner Ungeschicklichkeit machte. Dann blätterte er durch seine Briefmarkensammlung oder werkelte an Modellbauten und trank heimlich ein Gläschen, während seinem Vater nach beendeter Zeitungslektüre der Kopf zur Seite sank, bis er schließlich einschlief.
    So war es seit Ewigkeiten. Und aus der Angst heraus, die das Alter vor Veränderung hat, die immer nur Veränderung zum Schlechten sein kann, hätte keiner der beiden sich gewünscht, dass irgendetwas ihre Existenz in Unordnung brachte.
    An einem Montagabend Ende November, einige Zeit nachdem der Grill aux Alouettes den Flammen zum Opfer gefallen war, kam es Séraphon in den Sinn, durch die Ruinen zu fahren, vorgeblich weil vielleicht doch noch etwas Brauchbares zu finden sei. Remouald weigerte sich, so abstoßend fand er die Vorstellung. Aber seine Ablehnung steigerte Séraphons Starrsinn nur noch mehr.
    »Ich habe gesagt, wir fahren durch diese Ruinen, und wir werden durch diese Ruinen fahren«, beharrte er mit der Stimme seiner verstorbenen Frau.
    Resigniert schlug Remouald den Mantelkragen hoch, zog sich den Hut noch tiefer ins Gesicht und hob die Leine, mit der das Gelände abgesperrt war. Sie betraten die Ruinen.
    »Pass doch auf, du Idiot!«
    Remouald hatte Mühe, den Rollstuhl gerade zu halten: Der Ruß auf dem Boden bildete eine klebrige Masse, in der die Räder steckenblieben. Das Gelände war mit Trümmern übersät. Er blieb stehen und schaute sich um. Der Mond setzte das Gelände in ein eisiges Licht. Vom Grill aux Alouettes waren nurein paar metallische Gerippe, Giebelspitzen und Hausecken geblieben, schwarz wie Kaminstein. Die Tanzfläche war zwei Stockwerke nach unten gekracht und lag zertrümmert da wie eine zusammengefallene Etagentorte. Die Holztäfelung, die Säulen, die Geländer und Bänke, die Barhocker mit den abgebrochenen Füßen, die Deckenleuchten und das zerbrochene Geschirr, alles lag auf der Erde, im Dreck, und stank. Remouald vergrub sein Gesicht im Schal.
    »Los, weiter! Weiter, habe ich gesagt!«
    »Wir kippen noch um mit dem Rollstuhl!«
    »Wenn du dich nicht ganz dumm anstellst, dann kippt der Rollstuhl nicht um.«
    Widerwillig schob Remouald den Stuhl weiter durch den Schutt.
    »Was, wenn uns jemand sieht? Wir dürfen nicht einfach so auf einem abgesperrten Gelände herumspazieren.«
    »Pah! Pass du lieber auf, wo du hintrittst. Ich hänge hier gewaltig nach links.«
    »Unsere Sachen werden nach Rauch riechen, die Haare, die Haut!«
    »Ah! Interessiert es irgendwen, wie deine Haut riecht …? Warte, halt an. Was ist denn das da auf dem Boden?«
    »Was denn?«
    Séraphon geiferte: »Da …! Da!«
    Remouald beugte sich zur Seite, ohne den Stuhl loszulassen.
    »Auf der anderen Seite, du Trottel! Hier rechts.«
    »Was soll da sein, Papa? Das ist nur ein Aschenbecher.«
    »Ich sage: Heb ihn auf! Leg ihn mir auf den Schoß, in die Hände, damit ich ihn
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