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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Autoren: Gaétan Soucy
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Blick.
    Séraphon Tremblay schämte sich wenig für seine körperlichen Unzulänglichkeiten, die er durchaus für sich zu nutzen wusste. Er war einer jener Greise, die es sozusagen von Geburt an sind, die ihr Leben lang auf das richtige Alter warten und erst am Ende des Weges ganz zu sich selbst finden, dann aber den machtvollen Glanz aller Dinge erlangen, die ihr volles Wesen entfaltet haben. Sein Körper verlangte so gut wie nichts mehr von ihm, was ihm sehr entgegenkam, die Sorge war er los, und versetzte ihn obendrein in die glückliche Lage, seinen Sohn Remouald unter der Last seiner Schwäche erdrücken zu können.
    Seine ungenierte Machtausübung über ihn war unanfechtbar, auf ihre Weise bescheiden und zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Dennoch stieß er darin an eine Grenze, die er nicht überschreiten konnte. Wenn er sah, wie Remouald am Fenster stand und den Mond betrachtete, in irgendeine Träumerei versunken, hätte Séraphon seine eigene Seele verkauft, um in die seines Sohnes einzutauchen, seine Gedanken von innen heraus zu lenken wie ein Automobil. Dies führte bei ihm zu einer andauernden Gereiztheit. Es war ihm wie ein Stein im Schuh. Innerlich kochend dachte er sich immer neue Kaprizen aus. Remouald solle ihm gefälligst seine Unterlage zurechtrücken …! Er solle nicht so laut atmen …! Ohne zu murren, gleichmütig und ergeben, gehorchte Remouald jedem noch so extravaganten Befehl. Gern einmal hätte Séraphon eine Klage gehört oder ein ungeduldiges Seufzen. Er litt es nicht, dass Remouald ihm gehorchte, ohne zu leiden.
    Wie alle, die möchten, dass sich der Lauf der Dinge nach ihren Vorstellungen richtet, fühlte Séraphon sich beim kleinsten Anlass im Stich gelassen, verraten, bedauernswert einsam. Er hatte spät geheiratet und sich den Hang des alten Junggesellen zum Selbstmitleid bewahrt, dessen er sich meisterhaft zu bedienen wusste. Egoistisch zu sein war das Mindeste, das er sich selbst schuldig zu sein glaubte. Wenn er sich gut fühlte, verbrachte er ganze Sonntage damit, zu wehklagen, zu wimmern und zu schluchzen, hielt dabei gelegentlich inne und spähte aus dem Augenwinkel, welche Reaktion sein Kummer bei seinem Sohn auslöste.
    Seit Célias Tod bekam Séraphon in Remoualds Augen zunehmend Ähnlichkeit mit ihr, und im Gegenzug näherte sich ihre Gestalt in Remoualds Erinnerung immer mehr der seines Vaters an. Das ging so weit, dass Remouald sie schließlich nichtmehr unterscheiden konnte. Wenn sein Vater mit ihm sprach, hörte er die Stimme seiner Mutter. Remouald hatte vor sich, um sich dieses Wesen, das sein Leben beherrschte und das er dreimal die Woche im Rollstuhl an die frische Luft schob.
    Da das Schicksal sich listigerweise unscheinbar kleidet, begann alles mit einem Abendspaziergang, der allen vorigen zu gleichen schien.
    Sie gingen die Rue Moreau hinauf bis zur Rue Ontario, dann nach rechts bis zur Rue Préfontaine, und schließlich wieder hinunter bis zur Rue Sainte-Catherine, an Abenden besonderen Wagemuts sogar bis vor zur Rue Notre-Dame. Wenn sie das Rechteck wieder schlossen und von Süden die Rue Moreau hinaufgingen, kamen sie am Grill aux Alouettes vorbei. Jedes Mal wurde Remouald rot. Er fürchtete stets, einem Gast zu begegnen und von ihm gegrüßt zu werden. Ohne Séraphons Wissen (wie er glaubte) ging Remouald gelegentlich, wenn sein Vater eingeschlafen war (wie er glaubte), in den Grill aux Alouettes , saß bis in die frühen Morgenstunden in einer dunklen Ecke und trank eine Mischung aus braunem Bier und weißem Whisky namens »Biberfalle«. Wo immer er sich befand, hatte Remouald, weil sein großer Körper ihn beschämte, seine Bewegungen und Worte ungeschickt waren, den Eindruck, dass die Leute ihn anstarrten, hinter seinem Rücken tuschelten, mit dem Finger auf ihn zeigten. Er irrte sich. Wenngleich seine Person in vielerlei Hinsicht einzigartig war, fiel Remouald im Allgemeinen nicht weiter auf.
    Der Rückweg über die Rue Moreau war für Remouald der deprimierendste Teil des Spaziergangs und daher Séraphons Lieblingsstrecke. Sie mussten am Güterbahnhof vorbei, dann, durch Brachland abgetrennt, an der Schweinefabrik, derenSchornsteine rätselhaft in den Himmel ragten. In der Luft lag der Geruch der Silos, der sich mit den Schwaden der Melassefabrik vermischte, eine Prüfung für den Magen; und schließlich Séraphons Gejammer, wenn sein Rollstuhl beim Überqueren des Bahnübergangs über die Gleise holperte. Remouald, der sich stets bemühte,
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