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Die Ueberlebenden von Mogadischu

Titel: Die Ueberlebenden von Mogadischu
Autoren: Martin Rupps
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der ganzen Länge der Maschine mit dem Inhalt der Duty Free Flaschen aus unser aller Handgepäck getränkt worden war. Auch zwischen den Sitzreihen und auf die Sitzlehnen war Alkohol und Parfum ausgegossen worden (»damit ihr schöner brennt«, hatte Mahmud gesagt).
    Wie gesagt, der Junge war der Ruhigste von ihnen. Ganz zu Anfang natürlich, als die beiden – er und die Dicke – von den linken Sitzen der vorletzten, der 20.   Sitzreihe aufgesprungen waren und nach vorn stürmten, stießen sie beide ein mir verbal unverständliches, gleichwohl aber ganz unmißverständliches Geschrei aus, das im Hinblick auf die Pistole in seiner Hand und auf die zwei hochgehaltenen Handgranaten in den Händen der Komplizin keiner wörtlichen Übersetzung bedurfte.
    Ich saß damals noch am rechten Fenster der letzten, der 21.   Reihe der im Touristenverkehr etwas enger bestuhlten Maschine. Als der Mann die halbe Länge des Mittelganges zurückgelegt hatte, wandte er sich nach hinten um, während die Dicke an ihm vorbei bis an die Trennwand vor der ersten Reihe der Touristenklasse rannte und es ihm mit ihrem Geschrei und den hochgehaltenen Handgranaten ermöglichte, den restlichen Weg bis zur Trennwand – seine Waffe immer gegen uns gerichtet – unangefochten zurückzulegen. So hielten die beiden zunächst die Passagiere des hinteren Teiles der Maschine in Schach, während Mahmud und die Kleine das Cockpit und die Sitzreihen vor der Trennwand – sonst als first class benutzt – in ihre Gewalt genommen hatten.
    Abgesehen von diesem Anfangsgeschrei habe ich von dem Jungen all die Tage und Nächte kein lautes Wort mehr vernommen. Die meiste Zeit – unterbrochen von Ablösungen während jeweils mehrerer Stunden – stand er da, den Blick über unser aller Köpfe, die Pistolenhand auf die Sitzlehne der von Passagieren freigemachten ersten Sitzreihe aufgestützt. Seine Augen wanderten unablässig aufmerksam über seinen Wächterbereich, und nur, wenn jemand die über den Kopf zu haltenden Hände herunternahm, richtete er seine Pistole auf ihn, jedoch ohne den giftig aggressiven Augen 35 ausdruck des Mahmud nachzuahmen. Wenn zeitweise die Hände heruntergenommen werden durften, diente die Pistole auch dazu, einer Geisel, die sich durch Handaufheben zur Toilette meldete, durch einen entsprechenden Wink mit der Pistole die Erlaubnis für den Gang zur vorderen oder hinteren Toilette zu erteilen. Dabei war aber der für diese Fälle generell gegebene Befehl »put your hands over your head« zu befolgen.
    Als ich am nächsten Tag im Zuge einer Umsetzungsaktion (angebliche Trennung von Rauchern und Nichtrauchern) von Mahmud nach vorn in die vierte Reihe (also die dritte besetzte Reihe) umgesetzt wurde, bekam ich dort wieder den rechten Fensterplatz, saß aber trotzdem neben einem Kettenraucher (der sich, wenn Zigaretten gereicht werden durften, immer reichlich bediente). So hatte ich das Paar, das uns in Schach zu halten hatte, in den folgenden Tagen und Nächten näher vor Augen.
    Manchmal ließ der Junge seinen Blick einfangen. Ich habe ihn dann jeweils zehn bis fünfzehn Sekunden lang angeschaut, ruhig, ohne Aggression, ohne Ängstlichkeit. Ich versuchte, in den Menschen hineinzuschauen, der sich hinter dieser Gestalt verbarg. Auch er sah mich vollkommen ruhig an, eher etwas neugierig, keineswegs drohend. Ich hatte das zunächst ungewisse, jeden Tag aber bestimmter werdende Gefühl, daß er während dieser Sekunden, in denen unsere Blicke sich trafen, an seinen Vater dachte und daß mein weißes Haar seine Gedanken in diese Richtung lenkte. Er wirkte dann fast nachdenklich, soweit und solange seine Wächteraufgabe dies zuließ.
    Die erste Fesselung am Sonntag, die dann nach Festlegung des Montag-Ultimatums noch einmal aufgeknotet wurde, hatte an meinen Handgelenken tiefe Fesselspuren hinterlassen. Mahmud hatte bei der Kontrolle meiner Fesselspuren dem Jungen anerkennend zugenickt, hatte dann aber allgemeine Anweisungen gegeben, sich die Hände zu massieren, hochzuhalten und auszuschütteln. Meine Hände, die schon in der ersten Minute der Fesselung »eingeschlafen« waren, wurden auch bald wieder gut durchblutet. Die 36 Einschnürungen waren aber noch nach der Befreiung deutlich vorhanden.
    Das zweite Mal hat mich der Junge dann nicht mehr so scharf gefesselt. Die – offenbar vorher oft geübte – Fesselung war so ausgeführt, daß jeder Versuch, eine Hand herauszuziehen, sie noch straffer werden ließ. Als Mahmud außer
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