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Die Tudor-Verschwörung: Historischer Roman (German Edition)

Die Tudor-Verschwörung: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Tudor-Verschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Christopher W. Gortner
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wettergegerbte Gesicht verwittert wie ein Fels. Noch nie hatte ich bei ihm ein Verhalten beobachtet wie gerade eben. Wie ein Besessener war er über einen hilflosen Mann hinweggeritten, als hätte er seine Haut einfach abgeworfen und unter der Schicht des hochherrschaftlichen Burgvogtes einen Söldner offenbart.
    Ich musste immer noch meine Gedanken sammeln. Zögernd fragte ich: »Diese Frau … sie hat sie Bess genannt. War sie … die Schwester des Königs, Prinzessin Elizabeth?«
    »Wenn sie es wirklich war, dann bringt sie nur Ärger«, knurrte Master Shelton. »Der folgt ihr sowieso überallhin, genauso wie dieser Hure von ihrer Mutter.«
    Darauf entgegnete ich nichts mehr. Natürlich hatte ich von Anne Boleyn gehört. Wer hatte das nicht? Wie so viele auf dem Land draußen war ich mit blutrünstigen Geschichten über Henry VIII. und seine sechs Frauen aufgewachsen, mit denen er seinen Sohn, unseren gegenwärtigen König Edward VI., und zwei Töchter gezeugt hatte, die Prinzessinnen Mary und Elizabeth. Um Anne Boleyn heiraten zu können, hatte Henry seine erste Frau, die spanische Prinzessin Katharina von Aragón, die Mutter von Lady Mary, verstoßen. Danach hatte er sich zum Oberhaupt der englischen Kirche ausgerufen. Es hieß, Anne Boleyn hätte bei ihrer Krönung gelacht, doch das Lachen sollte ihr bald vergehen. Vom Volk als Ketzerin und Hexe beschimpft, die den König dazu angestachelt hatte, das Reich aus den Angeln zu heben, wurde sie nur drei Jahre nach Elizabeth’ Geburt wegen Inzest und Landesverrat angeklagt. Zusammen mit ihrem Bruder und vier weiteren Männern wurde sie geköpft. Einen Tag nach Annes Tod wurde Jane Seymour, König Edwards Mutter, mit Henry verlobt.
    Ich wusste, dass viele, die Annes Aufstieg und Fall erlebt hatten, sie auch noch nach ihrem tragischen Ende zutiefst verachteten. Von den einfachen Leuten verehrten immer noch viele Katharina von Aragón. Ihre Unbeirrbarkeit und Würde waren nie in Vergessenheit geraten, selbst wenn ihr Leben zerstört worden war. Wie auch immer die Verhältnisse sein mochten, ich war von Master Sheltons heftigem Ton verunsichert. Er sprach von Elizabeth, als wäre sie schuld an den Verbrechen ihrer Mutter.
    Während ich noch versuchte, aus alldem schlau zu werden, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine Silhouette, die sich von dem rasch dunkler werdenden Abendhimmel abhob. »Das ist der Whitehall-Palast«, sagte er. »Komm, es wird spät. Für einen einzigen Tag haben wir genug Aufregung erlebt.«
    Durch den riesigen, nach allen Seiten offenen Park erreichten wir Straßen, gesäumt von den hinter den Mauern aufragenden Herrenhäusern und dunklen Kirchen. Ich bemerkte eine große Steinkathedrale, die einem Wachposten gleich auf einem Hügel stand, und staunte über ihre düstere Pracht. Und als wir uns dem Whitehall-Palast näherten, wurde ich von Ehrfurcht schier überwältigt.
    Schlösser und Burgen waren nichts Neues für mich. Ja, der Sitz des Geschlechts Dudley, auf dessen Landgut ich aufgewachsen war, war eine Burg, die als eine der beeindruckendsten im ganzen Reich galt. Doch Whitehall war anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. An eine Flussbiegung geschmiegt, türmte sich die königliche Residenz von Henry VIII. vor mir auf – ein farbenprächtiger Bienenkorb aus bizarren Türmchen, spiralenförmig gewundenen Türmen und Säulengängen, die sich vor mir zu recken schienen wie schläfrige Raubtiere. Soweit ich das erkennen konnte, zogen sich zwei größere Hauptwege durch die Anlage, und überall wimmelte es von äußerst geschäftigen Menschen.
    Wir ritten in gemächlichem Trab durch das nördliche Tor, vorbei an einem überfüllten Vorhof zu einem Innenhof, wo sich zahllose Dienstboten, Amtsträger und Höflinge drängten. Die Zügel unserer Pferde straff im Griff, gingen wir zu Fuß weiter, zu den Stallungen, wie ich annahm, als uns ein schmucker Mann in karmesinrotem Wams zielstrebig entgegentrat.
    Master Shelton hielt mit einer steifen Verbeugung an. Der Mann neigte ebenfalls den Kopf zum Gruß, um uns dann mit seinen blassblauen Augen abzuschätzen. Seine lebhaften Züge wurden durch einen goldbraunen Bart abgerundet. Er erweckte bei mir den Eindruck, alterslose Männlichkeit und einen scharfen Verstand zu besitzen.
    Als ich ehrerbietig den Kopf senkte, erspähte ich unter seinen Fingernägeln getrocknete halbmondförmige Tintenflecken. »Master Shelton, Ihre Ladyschaft hatte mir mitgeteilt, dass Ihr heute eintreffen könntet«,
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