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Die Tränen des Herren (German Edition)

Die Tränen des Herren (German Edition)

Titel: Die Tränen des Herren (German Edition)
Autoren: Anke Napp
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Morgen eine öffentliche Verlesung der Anklagepunkte gegen seinen Orden vor der Universität geben sollte.
    So fand er sich früh nach einem alptraumgequälten Schlaf im Kirchenportal auf dem Fakultätsplatz ein.
    Der Platz hatte sich rasch gefüllt. Jung und Alt, Arm und Reich war zusammen geströmt. An diesem Morgen schien niemand seiner Arbeit nachzugehen. Als die Menge schon dicht gedrängt stand, hatten Bewaffnete einem beleibten, in reichen Pelz gekleideten Herrn den Weg gebahnt. Enguerrand de Marigny, Finanzminister des Königs. Jocelin hatte mit einer raschen Bewegung seine Kapuze übergezogen, fürchtend, dass Marigny ihn wiedererkennen könnte, hatte er ihm doch auf mehreren Reisen Geleitschutz gegeben. Aber diese Befürchtungen waren grundlos gewesen. De Marignys helle Augen nahmen Menschen wie einen zerlumpten, schmutzigen Pilger gar nicht wahr. Plötzlich war das vielstimmige Gemurmel erwartungsvoller Stille gewichen und der erste Magister hatte die Tribüne betreten.
    „Auf Befehl Seiner allerchristlichsten Majestät Philipps IV,. von Gottes Gnaden König von Frankreich, verlesen wir die Anklage, die die Heilige Inquisition gegen den Orden der Ritter des Tempels erhebt“, begann er, während die übrigen Doktoren heraustraten. „Glaubwürdige und ehrenhafte Zeugen offenbarten Seiner Majestät die üblen Verbrechen und in seiner Pflicht als Verteidiger der Kirche…“
    „Zeugen? Was für Zeugen?“ hatte sich Jocelin gefragt.
    „Die Templer werden beschuldigt, dass sie bei der Ableistung der Profess Christus unsern Erlöser...“ der Magister stockte ob der Ungeheuerlichkeit der Anklage. “...verleugnen. Man zeigt den Novizen ein Kreuz, und sie werden aufgefordert, unserem Herrn dreimal ins Angesicht zu spucken...“
    Der Magister hatte die Lesung fortgesetzt. Aber seine Worte wahren kaum zu verstehen gewesen, weil neben der Tribüne einige Leute brüllten: „Verbrennt sie! Verbrennt sie!“
    Mit ausgebreiteten Händen hatten die Theologen die Menge zu beschwichtigen gesucht. Jocelin hallten die Worte noch immer in den Ohren, mit dem sie dann die Aufzählung der Schandtaten fortsetzten:
    „Sodann entledigen sich die Novizen aller Kleider, die sie im weltlichen Leben trugen und stellen sich nackt vor den, der sie aufnimmt. Und jener küsst sie, wie der widerwärtige Brauch dieses Ordens es bestimmt, zuerst auf das Ende des Rückgrates, dann auf den Nabel und schließlich auf den Mund, zur Schande aller menschlichen Würde. Und nachdem sie mit solch verabscheuungswürdigen Taten gegen das göttliche Gebot gesündigt haben, verpflichten sie sich mit dem Gelübde ihrer Profess, ohne auch den Bruch mit dem Gesetz der Natur zu fürchten, sich einer dem anderen hinzugeben im Laster des entsetzlichsten Konkubinats… So entlud sich der Zorn Gottes über dieses verruchte Geschlecht, und er brachte sie durch die Hand unseres Königs zu Fall. Gott stürzte die Söhne des Unglaubens, denn sie haben die Quelle des lebendigen Wassers verlassen und Götzen angebetet... Erfüllt eure Pflicht gegenüber der Kirche und dem Königreich, Bürger! Wenn ihr etwas wisst zu dieser Angelegenheit oder flüchtige Templer kennt, macht unverzüglich eure Aussagen! Gott wird jeden reich belohnen, der die Arbeit der Heiligen Inquisition unterstützt! Wer aber böswillig Dinge verbirgt oder die verruchte Ketzerei dieses Ordens fördert, soll der Exkommunikation verfallen!
    Gegeben zu Paris am 14. Oktober im Jahre des Herrn 1307.“
    Jocelin sah sich um. Die Menschen tauschten erschrockene Blicke. Viele bekreuzigten sich. „Sie glauben es! Bei dem allmächtigen Gott, sie glauben es wirklich!“ dachte er. Er zweifelte nicht, dass sich die Leute auf ihn stürzen und ihn umbringen würden, wenn man ihn erkannte. Seine Augen erfassten Enguerrand de Marigny. Das feiste Gesicht von keiner Regung verzogen, verließ der Minister den Platz. Jocelin umklammerte seinen Pilgerstab, kämpfte gegen den Drang, Marigny zu packen und zu schütteln. Er musste doch wissen, dass es Lügen waren! Er hatte doch genug Zeit mit den Ordensbrüdern verbracht!
    Während der kommenden Stunden, die Jocelin ziellos durch Paris lief, begann er zu begreifen, in welche Lage ihn die ungeheuerliche Anklage der Inquisition gebracht hatte.
    Er galt als Ketzer, als Abtrünniger, schlimmer noch als die Ungläubigen, denn er hatte Christus gekannt und ihn verlassen. Er hatte ihn zum zweiten Mal verraten wie Judas. Er galt als Sodomit, ein Anhänger der
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