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Die Traenen Des Drachen

Titel: Die Traenen Des Drachen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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dir die Götter hold sein, Tenn, jetzt kann ich den Spieß selber halten.
    Wovon habe ich gesprochen? Westwald, ja. Eigentlich hat das Ganze da begonnen, auf einer Lichtung zwischen den Fichten im Norden des Waldes. Die Lichtung wurde Erste Schneeflocke genannt. Es ist ein geheimer Ort, und wenn ihr zuvor nie davon gehört habt, dann muss euch das nicht wundern.
    Ja, ich hab darauf gewartet, dass ihr das sagt; es gibt doch wohl keinen Ort, der Erste Schneeflocke heißt. Und es stimmt, dass kein Mann und keine Frau südlich von Kels, die ihre Sinne beisammen haben, auf einen derart sonderbaren Namen kommen würden. Aber es waren auch keine Menschen, die sich an diesem Herbstabend dort versammelt haben. Es waren Waldgeister, Wesen, die einige von, euch als Moosmänner kennen. Die Klansväter haben sicher über sie gesprochen und gesagt, sie gehörten zu den bösen Geistern des Westwalds. Da irren sie sich, das sage ich euch. Ich säße heute nicht hier, wenn es sie nicht gäbe.
    Was sagst du, Ekri? Ob es die Waldgeister waren, die meine Finger gegessen und mir stattdessen Vogelkrallen gegeben haben? Nein, die Waldgeister sind lieb. Ihr müsst das verstehen; die Waldgeister helfen allen, die an sie glauben. Es war übrigens ein Waldgeist, der mir diesen Zapfen gegeben hat, den ich an der Schnur um den Hals trage. Aber lasst mich nun von Erste Schneeflocke erzählen. Seid geduldig, ich komme gleich zu den Moosmännern.
     
    Erste Schneeflocke ist nicht mehr als ein grasbewachsener kleiner Hügel im Wald. Aber wenn es euch jemals so weit nach Norden verschlagen sollte und ihr diesen Hügel fändet, müsst ihr die Augen richtig öffnen. Ganz oben, zwischen Grasbüscheln und Heide, werdet ihr einen Kreis von verrußten Steinen entdecken und vielleicht ein wenig Asche zwischen ihnen. Und wenn ihr in der Nacht dort seid, in der der erste Schnee fällt, werdet ihr etwas Wundersames erleben.
    Zuerst werdet ihr bemerken, dass sich der Boden bewegt, dass kleine Moospolster am südlichen Ende der Lichtung zwischen den Fichtenstämmen entlangkrabbeln. Und wenn sie näher kommen, werdet ihr kleine Krieger, die mit Speeren bewaffnet sind, erkennen. Sie werden lange Bärte tragen und einige von ihnen werden schimpfen und weitere Moospolster aus dem Wald herbeirufen. Das sind die Waldgeister, die ihr da seht, und sie sind gekommen, um die erste Schneeflocke zu feiern. Während des restlichen Jahres leben sie über den ganzen Westwald verteilt – ja, manch einer sagt, sie wanderten bis auf die westlichen Ebenen hinaus –, aber sie wissen immer, wann es Zeit wird, sich gen Norden aufzumachen, um pünktlich in dieser Nacht da zu sein, und keiner von ihnen ist je zu spät gekommen. Wenn aus dem Herbst der Winter wird, sind sie alle dort versammelt. Und sie treffen sich oben auf dem Hügel, stehen da und starren zu den Sternen zwischen den Wolken hinauf, zu den Zwillingsschlangen, dem Schwertträger und dem Wagen. Niemand sagt etwas, und obgleich von diesem Zum-Himmel-Schauen bald ihr Nacken schmerzt, rühren sie sich nicht von der Stelle. Aber wenn der erste Eiskristall zu ihnen heruntertanzt, schleudern sie ihre Hüte in den Himmel, heben die Speere über den Kopf und jubeln. Und die Waldgeister, die im Süden gewesen waren, bieten Apfelwein an und die aus dem Norden Fichtensamenkekse. Alle lachen und feiern. Und – ja, du bist ein kleiner Schlaumeier, Tenn. Was, wenn es tagsüber anfängt zu schneien? Das tut es einfach nicht. Die erste Schneeflocke fällt immer dann, wenn sich der Bruder des Windes zur Ruhe gelegt hat, wenn es dunkel ist. Und wenn ihr die erste Schneeflocke fallen gesehen habt, als es hell war, könnt ihr sicher sein, dass auch schon ein paar Schneeflocken zu Boden getanzt sind, während ihr geschlafen habt.
     
    Aber hört jetzt von Erste Schneeflocke. Welch ein Anblick es sein muss, dort zu stehen, wenn sich der Herbst in den Winter verwandelt! Im Traum habe ich es gesehen: Die Ebenen im Norden, wie aus dem Grau ein Weiß wird. Die Fichten mit ihren hängenden Armen, deren dunkelgrüne Zweige den Schnee fangen und sich in ihr Winterkleid hüllen. Und Freunde, habt ihr jemals wahrgenommen, wie es in einem Wald riecht, wenn der erste Schnee fällt? Wie es nach gefrierendem Moos duftet und kalter Erde, wenn der Frost zu den Wurzeln der Bäume zieht? Nächsten Herbst, wenn ich nicht mehr da bin, müsst ihr hinausgehen und zusehen, wie sich auf den Pfützen das Eis bildet. Klettert auf die Klippen und seht zu, wie sich
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