Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
ich?«
»Es war der Betonblock«, sagt sie. »Offensichtlich war das Seil daran befestigt, doch einige haben scharfe Kanten. Und als der Block unten auf einem anderen Stein gelandet ist, wurde das Seil angeritzt. Die Gase im Körper reichten dann aus, um es zu durchtrennen. Hör zu, du musst jetzt wirklich gehen.«
»Wahrscheinlich kriege ich das die nächsten Tage noch öfters zu hören.«
»Dann tu dir selbst einen Gefallen und vergiss die ganze Sache«, sagt sie, bevor sie sich abwendet und wieder in der Leichenhalle verschwindet.
Kapitel 6
Im Fahrstuhl ist es kühl, als hätte er beim Öffnen der Türen einen Großteil der kalten Luft mit eingesogen. Drau ßen ist es kaum wärmer. Jetzt, wo ich dort unten war, könnte die Sonne die Stadt vermutlich in einen Pool voller Lava verwandeln, und ich würde keinen Unterschied merken.
Auf dem Weg zum Wagen ziehe ich den Diamantring der toten Frau aus der Tasche und inspiziere ihn. Auf der Innenseite befindet sich eine Inschrift, und ich muss die Augen zusammenkneifen, um sie im schwachen Licht des Parkhauses zu entziffern. Rachel & David für immer. Das klingt wie einer der Sprüche, die Jugendliche in einen Baum ritzen. Die drei Steine sind keine Diamanten, weshalb der Ring vielleicht immer noch neben der Hand der Frau lag und nicht in irgendeiner Pfandleihe Staub ansetzt. Sie sind aus Glas, trübem Glas, wodurch das, was man ihr angetan hat, aus irgendeinem Grund noch sehr viel grausamer erscheint. Jemand hat ihr den Ring geschenkt; er konnte sich keine echten Diamanten leisten, und sie brauchte auch keine. Vielleicht hatten sie sich ein Versprechen gegeben: sollte es mal für sie besser laufen, sollten sie mit irgendeinem Plan, den er eines Tages ausheckte, zu Geld kommen, würde er ihr jeden Stein der Welt kaufen. Sie hatte den Ring nicht an der Hand, an der man normalerweise den Ehering trägt, sondern an der anderen, aber vielleicht gab es ja noch weitere Versprechungen.
Sollte Tracey den Ring entdeckt haben, wird sie bald merken, dass er verschwunden ist. Die Frage ist nur, was sie deswegen unternehmen wird. Mich anrufen? Oder jemand anders deswegen benachrichtigen? Ich hätte sie nie in so eine Situation bringen dürfen.
Als ich diesmal in mein Büro zurückkehre, klemme ich mich sofort hinter meinen Computer; während er hochfährt, betrachte ich den Ring. Bei einem teuren Stein oder einer Maßanfertigung ließe sich die Spur leicht zurückverfolgen. Im Internet gehe ich auf eine geschützte Seite über vermisste Personen, zu der nur Polizisten, Sozialarbeiter und einige wenige Privatdetektive Zugang haben. Es dauert bloß ein paar Minuten, bis eine Liste mit den vermissten Rachels erscheint. Als Suchvorgabe wähle ich die letzten zwei Jahre, weil ich vermute, dass sie nach Henry Martins’ Beerdigung gestorben ist.
Übrig bleiben zwei Namen; ein Eintrag stammt aus derselben Woche, in der Henry Martins gestorben ist. Die Beschreibung könnte gut auf jene Rachel passen, die ich vor einer halben Stunde betrachtet habe.
Ich drucke die Angaben zu Rachel Nummer eins aus. Niemand hat Rachel Tyler, eine neunzehnjährige Frau, die von ihren Eltern als vermisst gemeldet wurde, in den letzten zwei Jahren gesehen. Ich kann mich an den Fall nicht erinnern, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie eines von vielen Mädchen war, die angeblich von zu Hause abgehauen sind. In Wirklichkeit verschwinden in diesem Land jeden Tag irgendwelche Leute. Manchmal tauchen sie wieder auf: pleite und zugedröhnt in einem Motelzimmer, weil sie ihr ganzes Bargeld im Casino verbraten und statt auf Schwarz auf Rot gesetzt haben. Manchmal werden sie aufgedonnert und zur Prostitution gezwungen, damit sie ihre Spiel- oder Drogenschulden begleichen, oder sie tun es, um sich selbst zu bestrafen. Andere wiederum haben ihre Frau oder ihren Mann für jemanden mit einem dickeren Bankkonto, einem größeren Haus oder für einen jüngeren Partner verlassen. Und einige tauchen gar nicht mehr auf.
Auf dem Foto blickt Rachel mürrisch drein; ob nun echt oder gespielt, das wirkt um einiges stärker als der Anblick eines glücklichen und kontaktfreudigen Mädchens, das ein Eis oder ein Abschlusszeugnis in der Hand hält oder das sich um kranke, alte Leute kümmert. Sie wäre jetzt einundzwanzig, wenn man sie nicht umgebracht und anschließend in den Sarg gestopft hätte.
Ich schaue mir das Foto genau an. Ihr braunes Haar ist dunkler als in der Leichenhalle, wo ich sie vor weniger als einer
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