Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
Vom Netzwerk:
beugte sich über den Tisch und lächelte mit ihrem zweitcharmantesten Lächeln Santini an.
    – Und was mich betrifft, sind also alle Genehmigungen, die nötig sind, erteilt? fragte sie. Mein Fernsehteam kommt nicht vor der ersten Juliwoche, aber es ist schön, mit dem bürokratischen Teil der Prozedur rechtzeitig fertig zu sein.
    Sophies weißes Hemd war großzügig aufgeknöpft, und Santinis Blick drohte an der Spalte zwischen ihren Brüsten hängenzubleiben, aber es gelang ihm, ihn von dort loszureißen und Sophie in die Augen zu sehen.
    – Alles klar, Madame Lind, sagte er, Sie müssen nur Bescheid sagen, wenn es noch etwas gibt, womit wir Ihnen helfen können.
    Sophie nahm eine der Broschüren von dem Stapel und blätterte darin.
    – Sie haben da viel hineingesteckt, sagte sie mit einer Andeutung von Neugier in der Stimme.
    Santini richtete sich auf dem Sofa auf und holte tief Atem. Jetzt kommt die Vorlesung, dachte Thomas resigniert. Er hatte sie viele Male gehört. Aber er mußte zugeben, daß sich Santini für die Stadt wirklich einsetzte, das war seine ansprechendste Eigenschaft.
    – Mein Vater fing vor dreißig Jahren bei Forvil an, sagteSantini mit missionarischer Glut im Blick, und damals gab es fünftausend Angestellte in dem Eisenhüttenwerk. Heute gibt es nicht einmal mehr zweitausend. Und die Zahl wird noch weiter zurückgehen, damit rechnen wir. Früher oder später wird der Hochofen stillgelegt. Deshalb haben wir unsere Strategie für das Villette der Zukunft entwickelt, »Villette 2000«. Hochtechnologie und Dienstleistungsunternehmen, da liegt unsere Zukunft – Telekommunikation, Tourismus, Handel. Und der Kulturhauptstadteinsatz ist ein entscheidender Teil dieser Strategie, ganz entscheidend. Wir wollen Villette ganz Europa als intellektuelles und kulturelles Zentrum der Region zeigen. Wir haben unsere Universität mit international hervorragenden Forschern wie Professor Héger hier, wir haben unser Kulturerbe aus dem Mittelalter, wir haben einige phantastische Beispiele von Jugendstilarchitektur. Haben Sie zum Beispiel die neurenovierte Markthalle gesehen, Madame Lind?
    Er beugte sich eifrig zu Sophie vor. Vielleicht wollte er ihr eine private Führung anbieten.
    Erneut war durch die halb offene Tür ein gequältes Röcheln zu hören.
    – Wie geht es dem Bürgermeister eigentlich? fragte Sophie. Santini beugte sich noch ein paar Dezimeter weiter über den Tisch und senkte die Stimme zu einem konspirativen Flüstern:
    – Ja, die Bypassoperation ist gelungen, sagen die Ärzte, aber die Erholung wird Zeit brauchen. Hoffen wir, daß er einen ruhigen Sommer haben wird.
    Thomas stand auf.
    – Dann gehen wir besser, sagte er und zog Sophie resolut mit sich. Wir sehen uns morgen beim Empfang!
    Die Hitze des späten Nachmittags schlug ihnen wie einezitternde Wand aus Wärme entgegen, als sie aus dem kühlen Dunkel im Torgewölbe des Rathauses hinaustraten. Sophie zog ihre Sonnenbrille aus der Handtasche und setzte sie auf.
    – Dieser Platz ist schön, sagte sie, und viel größer als die Place de la Cathédrale. Warum versammelt sich die Prozession nicht hier?
    Thomas lachte.
    – Das ist das Ergebnis eines mittelalterlichen Machtkampfes zwischen Kirche und Bürgerschaft, und siebenhundertjährige Traditionen ändert man nicht ohne weiteres. Und wie unser Freund Santini sagte, hier bleibt einem wenigstens der Geruch von Kamelmist im Sonnenuntergang erspart.
    Sophie sah sich neugierig nach Menschen und Gebäuden um, als sie von der Grande Place hinunter zum Kai spazierten. Viele, besonders die über Vierzigjähren, stutzten, wenn sie sie sahen, und schauten noch einmal hin. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ein ekstatischer französischer Filmkritiker Sophie als »eine Mischung aus einer jungen Ingrid Bergman und einer jungen Simone Signoret« beschrieben, und sie hatte immer noch die selbstverständliche Ausstrahlung eines Stars.
    Sophie war das älteste und Thomas das jüngste von vier Kindern der schwedischen Künstlerin Eva Lidelius und ihres belgischen Mannes André Héger. Sophie war eine neunzehnjährige Studentin in Stockholm gewesen, als sie der Regisseur Eskil Lind in einer Studententheateraufführung von »Was ihr wollt« gesehen und ihr direkt eine Rolle in dem Mittelalterfilm angeboten hatte, den er gerade drehen wollte. »Blanche von Namur« hatte auf Filmfestivals in Europa Preise abgeräumt und die Erfolge mit einem Oscar fürden besten ausländischen Film gekrönt, während sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher