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Die Tote von Harvard

Die Tote von Harvard

Titel: Die Tote von Harvard
Autoren: Amanda Cross
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du willst für dich selbst und Fremde sein, und das macht dann einen alten Mann oder eine alte Frau aus dir.

    Gertrude Stein ›Making of Americans‹

    Kate Fansler betrachtete die Reihe von Männern auf der anderen Seite des breiten Konferenztisches und dann die Männer zu ihrer Rechten und Linken. Außer ihr hatte man, um den Schein von Gleichberechtigung zu wahren, noch eine Frau ins Komitee berufen; sie war schwarz und heute nicht anwesend. Sie hatte so viele Verpflichtungen, daß diese, obwohl die Mitgliedschaft in diesem Komitee ein hohes Privileg bedeutete, sich gelegentlich in die Quere kamen. Kate hatte gelernt, Ärger zu verbergen. Es sich nicht anmerken zu lassen, wenn sie sich langweilte, gelang ihr weniger gut. Während sie also ihren Blick über die Männer schweifen ließ, stellte sie fest, daß die gegenwärtige Dekade sich für sie dadurch auszeichnete, in der Gesellschaft vieler Männer und einiger weniger Frauen an hoch-glanzpolierten Konferenztischen zu sitzen und über die akademischen Probleme der siebziger Jahre zu debattieren. Manchmal sah Kate in Gedanken ihren Grabstein vor sich, mit der in Marmor gemeißelten Inschrift: »Die Alibi-Frau«. Und über der Inschrift schwebten gleichgültige androgyne Engel.
    Um fünf Uhr stand sie auf, fest entschlossen, sich aus dem Raum zu schleichen. Sie wußte, bald würde einer der Männer aufstehen, um seine Fahrgemeinschaft nicht warten zu lassen. Wenn sie ein paar Minuten vor ihm ging, konnte ihr niemand einen Vorwurf machen. Keine Minute länger ertrug sie das männliche Gepluster und umständliche Getue. Sie mußte entweder verschwinden, oder sie würde laut schreien. Natürlich nahm kaum jemand von ihrem Abgang Notiz, obwohl einige Männer ihr mechanisch zuwinkten. Wodurch sich die achtziger Jahre auszeichnen würden, wußte Kate nicht. Sie hoffte jedenfalls inständig, es mochten keine Komiteesit-zungen sein, sondern etwas, wenn schon nicht Aufregenderes, so doch zumindest… weniger Alibihaftes.

    8

    Sowie sie den Raum verlassen hatte, kehrten ihre Lebensgeister zurück. Sie beschloß heimzugehen, sich einen Drink zu mixen und die Füße hochzulegen. Vielleicht hatte Reed, der um die Welt tingel-te und Vorträge über Polizeimethoden hielt, ihr geschrieben. Oder besser, die Post hatte sich vielleicht dazu bewegen lassen, seine Briefe zuzustellen. In der Damentoilette im Erdgeschoß blickte Kate amüsiert auf eine kleine runde Plakette, die am Spiegel klebte: »Vertrau auf Gott: SIE wird für dich sorgen.« Kate lächelte und machte sich auf den Heimweg.
    Kate trank ihren Martini und versuchte abzuschalten und dachte, daß Gott – egal welchen Geschlechts – nach Meinung vieler Leute sehr gut für sie gesorgt hatte. Kate konnte dem nicht widersprechen.
    Sie hatte all die Vorteile ihrer mit Reichtum und gesellschaftlicher Stellung gesegneten Familie genossen, und gleichzeitig war es ihr gelungen, dem zu entgehen, was sie als überwältigende Nachteile einer solchen Herkunft empfand. Soll heißen: Kate wußte ihre Privi-legien zu schätzen – was sie nicht schätzte, waren die Ansichten und gesellschaftlichen Konventionen ihrer Kaste. Schon zu einem Zeitpunkt, als solch ein Vorhaben in ihren Kreisen als höchst exzentrisch galt, hatte sie sich entschlossen, Karriere zu machen und war Literaturprofessorin an einer der größten und angesehensten Universitäten New Yorks geworden. Erst spät, zumindest nach dem gängigen Urteil, hatte sie einen Mann geheiratet, der ihr eher Kameradschaft bot als Taumel der Sinne. Sie betrachteten beide die Ehe nicht als unun-terbrochene Kette von erotischer Lust und Diners in den besten Restaurants. Reed Amhearst war als Bezirksstaatsanwalt in ihr Leben getreten. Er agierte noch immer in den höheren Rängen staatlicher Gerichtsbarkeit, hatte aber in den letzten Jahren seine Aktivitäten deutlich zugunsten eines humanen Strafvollzugs verlagert. Sein mo-mentaner Aufenthalt in Afrika galt einer Sache, die ihm sehr am Herzen lag. Obwohl er schon seit Wochen fort war, lauschte Kate immer noch um diese Zeit auf seinen Schritt.
    Kate wußte, daß ihr Desinteresse Folge ihres wohleingerichteten Lebens war. Oder, um es etwas hochtrabender und Kates Beruf angemessener auszudrücken: Ein Mensch, dem keine neue Herausfor-derung mehr gestellt wird, versinkt in die Todsünde der geistigen und moralischen Trägheit. Eigenartig, dachte Kate, daß es so viele Jahre dauert, bis man eine simple Tatsache begreift: Immer scheint das
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