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Die Tochter des Magiers

Die Tochter des Magiers

Titel: Die Tochter des Magiers
Autoren: Nora Roberts
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betätigte sich eifrig als
Taschendieb. Er hatte geschickte Hände, flinke Finger und kannte zudem
keinerlei Gewissensbisse, was die wichtigste Voraussetzung in diesem
Gewerbe war.
    Er war zwölf Jahre alt.
    Vor fast sechs Wochen war er von zu Hause abgehauen und
seitdem auf der Flucht. Luke hatte große Pläne. Ehe der feuchtheiße
Sommer New Englands in einen klirrenden kalten Winter überging, wollte
er im Süden sein.
    Geschickt angelte er ein Portemonnaie aus der Tasche eines
weiten Overalls und dachte mit einem kleinen Seufzer, daß er nicht weit
kommen würde, wenn die Ausbeute so mager blieb wie bisher. Nur wenige
Besucher des Rummelplatzes hatten mehr als ein paar lumpige Dollar
dabei.
    Aber wenn er erst mal in Miami war, würde alles anders werden.
Hinter einer Bude warf er das Portemonnaie aus Kunstleder weg und
zählte die Beute dieses Abends.
    Achtundzwanzig jämmerliche Dollar.
    In Miami, wo es Strände gab, Sonne und Spaß, würde er dagegen
richtig absahnen. Er mußte nur erst mal dorthin kommen. Bis jetzt hatte
er fast zweihundert Dollar erbeutet. Noch ein bißchen mehr, und er
konnte es sich leisten, wenigstens einen Teil der Strecke mit dem Bus
zu fahren. Mit einem Greyhound, dachte er, endlich mal nicht per
Anhalter mit bekifften Hippies oder fetten Perversen, die ihre Finger
nicht bei sich halten konnten.
    In seiner Situation konnte er nicht sehr wählerisch sein, bei
wem er einstieg. Er mußte jederzeit damit rechnen, daß irgendwer eine
Meldung bei der Polizei machte oder ihm wenigstens – was fast
genauso schlimm wäre – einen Vortrag über die Gefahren hielt,
die einem Ausreißer wie ihm drohten.
    Daß es zu Hause sehr viel gefährlicher war als auf der Straße,
würde ihm niemand glauben.
    Nachdem er zwei Eindollarscheine aussortiert hatte, verstaute
Luke sorgfältig den Rest seiner Beute. Er mußte unbedingt etwas essen.
Der Duft, der von den Imbißbuden herüberwehte, quälte ihn schon seit
fast einer Stunde. Er würde sich einen dicken Burger und Fritten gönnen
und alles mit einer kalten Limonade hinunterspülen.
    Wie die meisten zwölfjährigen Jungen hätte auch Luke Lust zu
einer Fahrt auf der Achterbahn mit ihren bunten Lichtern gehabt, aber
er verdrängte diesen Wunsch rasch wieder. Diese Idioten bildeten sich
ein, sie erleben wer weiß was für ein Abenteuer, dachte er mit einem
höhnischen Grinsen. Doch während er heute nacht unter freiem Himmel
schlief, würden sie sich gemütlich in ihre Betten kuscheln, um sich
gleich nach dem Aufwachen wieder von Mommy und Daddy herumkommandieren
zu lassen.
    Ihm würde das nicht mehr passieren. Nie wieder.
    Mit einem Gefühl grenzenloser Überlegenheit hakte er die
Daumen in die Taschen seiner Jeans und stolzierte auf die Imbißbuden zu.
    Dabei kam er wieder an dem mannshohen Plakat vorbei. Es zeigte
den Großen Nouvelle mit seiner schwarzen Haartolle, dem langen
Schnurrbart und diesen hypnotischen dunklen Augen. Jedesmal wenn Luke
das Bild dieses Zauberers anschaute, spürte er eine merkwürdige
Anziehungskraft davon ausgehen, die er sich gar nicht erklären konnte.
    Die Augen auf dem Bild schienen bis tief in seine Seele zu
blicken, so als wüßte dieser Mann alles über Luke Callahan aus Bangor
in Maine, der ausgerissen war und sich über alle möglichen Umwege bis
hierher durchgeschlagen hatte.
    Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der gemalte Mund zu
sprechen begonnen hätte, und er rechnete fast damit, daß die Hand im
nächsten Moment die Spielkarten fallen ließ und hervorschoß, um ihn zu
packen und geradewegs in das Plakat hineinzuziehen. Dann wäre er für
immer dort gefangen und würde vergeblich gegen den Pappkarton schlagen,
so wie er schon oft gegen versperrte Türen geschlagen hatte. Es
gruselte ihn richtig bei diesem Gedanken, doch obwohl sein Herz
hämmerte, musterte er herausfordernd das gemalte Gesicht. »Zauberei ist
Quatsch«, sagte er, aber er sagte es nur ganz leise. »Lauter alberne
Mätzchen«, fuhr er mit wachsender Zuversicht fort. »Blöde Kaninchen aus
einem blöden Hut ziehen und ein paar alberne Kartentricks.«
    Trotzdem hätte er sich diese albernen Tricks gar zu gern
einmal angesehen, viel lieber als eine Fahrt auf der Achterbahn zu
machen und sogar lieber, als sich mit ketchuptriefenden Fritten
vollzustopfen. Unsicher betastete Luke das Geld in seiner Tasche.
    Einen Dollar wäre es schon wert, und wenn auch nur, um sich zu
überzeugen, daß der Zauberer nichts taugte. Er könnte sich bequem
hinsetzen und
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