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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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bekannt. Das erste war, dass mein Vater während der Bürgerkriege im alten England als Soldat gedient hatte. Er besaß einen alten, abgewetzten, zu einem matten Rostbraun verschossenen, ehemals roten Uniformrock, der noch aus London stammte. Ein Ärmel wies einen Riss auf, als habe man ihn mit einem scharfen Gegenstand durchstoßen. Wie Richard mir erklärte, hätte Vater ganz sicher den Arm verloren, wäre der Ärmel nicht so dick gefüttert gewesen. Als ich meinen Bruder bat, mir ausführlicher zu erzählen, wann und wo Vater gekämpft hatte, verzog er nur verächtlich die Lippen. »Ach, du bist doch bloß ein Mädchen und verstehst nichts von Männersachen«, lautete seine einzige Antwort. Der zweite Punkt war, dass die anderen Männer sich offenbar vor meinem Vater fürchteten. Häufig gaben sie einander hinter seinem Rücken ein merkwürdiges Zeichen, indem sie sich mit dem Daumen quer über den Hals fuhren, wie um den Kopf vom Körper zu trennen. Wenn meinem Vater das je aufgefallen sein sollte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
    Meine Mutter, die vor der Hochzeit Martha Allen geheißen hatte, saß neben ihm. Sie hatte die erst einjährige Hannah auf dem Schoß und hielt das zu einem formlosen Bündel gewickelte Kleinkind locker wie ein Paket. Ich weiß noch, wie ich meine kleine Schwester neugierig beobachtete und mich, grausam wie Kinder nun einmal sind, fragte, ob sie wohl aus dem Karren fallen würde. Vor einigen Jahren hatte der Tod uns meine kleine Schwester Jane genommen, vermutlich ein Grund für meine Gefühllosigkeit, denn schließlich musste ich befürchten, dass auch dieses Mädchen sterben könnte. Das erste Lebensjahr war eine so unsichere Zeit, dass einige Familien ihren Kindern erst dann einen Namen gaben, wenn sie die ersten zwölf Monate überstanden hatten und mit größerer Wahrscheinlichkeit am Leben bleiben würden. In manchen Haushalten war es sogar Sitte, den Namen eines verstorbenen Säuglings einfach an das nächste Kind weiterzugeben - oder an das übernächste, falls dieses ebenfalls starb.
    Häufig hatte ich den Verdacht, dass meine Mutter uns allen nicht sonderlich zärtlich zugetan war, obwohl wir uns so voneinander unterschieden, wie das bei Kindern nur möglich sein konnte. Richard war sehr nach unserem Vater geraten: hochgewachsen, schweigsam und so undurchdringlich wie die Felsen von Boston Bay. Andrew, der Zweitgeborene, war als kleines Kind reizend, fröhlich und anstellig gewesen, wurde jedoch im Laufe der Jahre geistig schwerfällig, sodass meine Mutter oft die Geduld mit ihm verlor. Tom, der dritte Sohn, stand mir sowohl altersmäßig als auch vom Gemüt her am nächsten. Er war klug und schlagfertig und außerdem, ebenso wie ich, aufbrausend und ein Unruhegeist. Allerdings litt er immer wieder an Anfällen von Kurzatmigkeit und hatte deshalb zuweilen nicht die Kraft, beim Jahreszeitenwechsel auf dem Feld und in der Scheune mitzuhelfen. Ich war das vierte Kind und, wie ich mir nur allzu oft anhören musste, starrköpfig und eigensinnig. An mich war nur schwer heranzukommen, und da ich die Welt mit eher argwöhnischen Augen sah und weder hübsch noch anschmiegsam war, wurde ich nicht als liebes kleines Mädchen vergöttert. Wegen meiner Widerworte setzte es immer wieder eine kräftige Abreibung mit einem geschlitzten Löffel, den wir Kinder »eiserne Bessie« getauft hatten. Außerdem hatte ich die Angwohnheit, meine Mitmenschen unverhohlen anzustarren, obwohl ich wusste, wie sehr sie das in Verlegenheit brachte. Meine Mutter verabscheute meine eindringlichen Blicke besonders, so als fühlte sie sich dadurch eines wichtigen Teils ihres Selbst beraubt, den sie sonst sogar ihren engsten Vertrauten vorenthielt. Da wir Tag und Nacht auf engstem Raum aßen, schliefen oder arbeiteten, wurde erwartet, dass wir zumindest in dieser Hinsicht Distanz wahrten. Mutter hasste mein Starren so sehr, dass sie alle Anstrengungen unternahm, mich dabei zu ertappen. Wenn ich nicht rechtzeitig wegschaute, bevor sie sich zu mir umdrehte, kam die »eiserne Bessie« auf meinem Rücken und meinen Beinen zum Einsatz, bis Mutters Handgelenke den Dienst versagten - und da diese so stark waren wie die eines Mannes, konnte das eine Weile dauern. Allerdings wurde ich dank meiner Aufmerksamkeit Zeugin vieler Ereignisse, die andere gar nicht sahen. Oder nicht wahrhaben wollten.
    Obwohl das Katz-und-Maus-Spiel sich zu einer Art Privatkrieg zwischen uns entwickelte, beobachtete ich sie nicht nur aus
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