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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose
Autoren: Jennifer Donnelly
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seit sie Kinder waren. Und vor zwei Jahren hatten sie angefangen zu sparen, Geld in eine alte Kakaodose zu stecken, die Joe unter seinem Bett aufbewahrte. Alles wurde in diese Dose gesteckt – der Lohn, Münzen, die sie zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekamen, Geld für kleine Hilfsdienste, sogar die paar Groschen, die sie auf der Straße gefunden hatten. Stück für Stück hatten sich die Münzen angehäuft, und jetzt besaßen sie zwölf Pfund und zwei Shilling – ein Vermögen.
    Im Lauf der Jahre hatten sie und Joe sich ihren Laden ausgemalt, ihn in ihrer Phantasie verschönert und verbessert, bis das Bild so reale Gestalt annahm, daß sie nur die Augen zu schließen brauchte, um den Tee in den Kisten zu riechen. Sie konnte die glatte Eichentheke unter ihren Händen spüren und die kleine Messingglocke über der Tür klingeln hören. Es wäre ein heller, lichter Ort, kein schäbiges, dunkles Loch. Ein wirklich schönes Geschäft mit so geschmackvoll dekorierten Schaufenstern, daß die Leute einfach nicht daran vorbeigehen könnten. »Die Hauptsache ist die Präsentation, Fee«, sagte Joe immer. »Die zieht die Kunden in den Laden.«
    Der Laden wäre ein Erfolg, das wußte sie. Was das Verkaufen anging, kannte sich Joe als Sohn eines Gemüsehändlers aus. Er war auf einem Gemüsekarren aufgewachsen und hatte die ersten Jahre seines Lebens in einem Korb zwischen Rüben und Kartoffeln verbracht. Noch bevor er seinen Namen sagen konnte, konnte er schon rufen: »Kauft meine gute Pe-tersi-lie!« Mit seinem Wissen und vereinten Kräften konnte gar nichts schiefgehen.
    Unser Laden, ganz allein unser, dachte Fiona und sah Joe an, der aufs Wasser hinausblickte. Ihr Blick liebkoste sein Gesicht, erfreute sich an jeder Einzelheit – der kräftigen Kinnlinie, den sandfarbenen Stoppeln, die seine Wangen bedeckten, der winzigen Narbe über seinem Auge. Sie kannte jeden Zug an ihm. Es gab keine Zeit, da Joe Bristow nicht ein Teil ihres Lebens gewesen wäre, und es würde auch künftig keine geben. Sie und Joe waren in der gleichen schäbigen Straße aufgewachsen, als Nachbarskinder. Von klein auf hatten sie miteinander gespielt, hatten zusammen Whitechapel unsicher gemacht und waren gemeinsam durch dick und dünn gegangen.
    Sie hatten als Kinder ihre Pennys und Süßigkeiten geteilt, und jetzt teilten sie ihre Träume. Bald würden sie ihr Leben teilen. Sie würden heiraten, sie und Joe. Nicht gleich. Sie war erst siebzehn, und ihr Vater würde sagen, sie sei zu jung. Aber nächstes Jahr wäre sie achtzehn und Joe zwanzig, und sie hätten Geld gespart und beste Aussichten.
    Fiona stand auf und sprang von den Stufen auf die Steine hinunter. Ihr ganzer Körper bebte vor Aufregung. Sie schlenderte zum Flußufer, nahm eine Handvoll Steine und warf sie übers Wasser. Danach drehte sie sich zu Joe um, der noch immer auf den Stufen saß und ihr zusah.
    »Eines Tages sind wir so groß wie die hier«, rief sie und breitete die Arme aus. »Größer als White’s oder Sainsbury’s. Und größer als Harrods.« Sie stand ein paar Sekunden still und sah auf die Lagerhäuser auf beiden Seiten und auf die Kais auf der anderen Flußseite. Auf den ersten Blick wirkte sie so zart und zerbrechlich, ein schmächtiges Mädchen, das am Flußufer stand mit dem Rocksaum im Schlamm. Aber wer sie näher ansah, so wie Joe es tat, entdeckte in jedem ihrer Züge, in jeder Geste ihren glühenden Ehrgeiz.
    »Wir werden so groß sein«, fuhr sie fort, »daß jeder Händler am Fluß alles dransetzen wird, uns seine Waren zu verkaufen. Wir werden zehn Läden in London haben … nein, zwanzig … und noch mehr im ganzen Land. In Leeds und Liverpool. In Brighton, in Bristol und Birmingham und …« Sie hielt inne, weil sie plötzlich Joes Blick bemerkte und verlegen wurde. »Warum siehst du mich so an?«
    »Weil du so ein verrücktes Mädchen bist.«
    »Das bin ich nicht!«
    »Doch. Du bist das verrückteste Huhn, das ich je gesehen hab. Du hast mehr Mumm als die meisten Kerle.« Joe lehnte sich auf die Ellbogen zurück und musterte sie bewundernd. »Vielleicht bist du gar kein Mädchen, sondern in Wirklichkeit ein verkleideter Junge.«
    Fiona grinste. »Vielleicht bin ich das. Vielleicht solltest du hier runterkommen und nachsehen.«
    Joe stand auf, und Fiona, vom Schalk gepackt, drehte sich um und rannte den Strand hinunter. Ein dumpfes Knirschen hinter ihr verriet ihr, daß er heruntergesprungen war und sie verfolgte. Sie quiekte vor Vergnügen, als er
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