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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Autoren: David Mitchell
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Er zögert. «Ogawa-sama hat es getan, aber er war ein herausragender Dolmetscher.»
    Weiter oben am verborgenen Berghang stoßen Grasmücken fragende Rufe aus.
    «Und ein tapferer Mensch.» Oritos Stimme verrät Jacob, dass sie weiß, wie und wofür er gestorben ist.
    «Als Yūans Mutter noch lebte, bat ich sie häufig, mein Japanisch zu korrigieren, aber sie war eine denkbar schlechte Lehrerin. Sie fand meine Fehler liebenswert.»
    «Und doch findet man Ihr Wörterbuch inzwischen in jedem Lehen. Meine Schüler sagen nicht: ‹Gib mir das Niederländisch-Wörterbuch›, sie sagen: ‹Gib mir den Dazūto.›»
    Der Wind zerzaust die langfingrigen Eschen.
    Orito fragt: «Lebt William Pitt noch?»
    «William Pitt ist vor vier Jahren mit einer Affendame auf der Santa Maria durchgebrannt. An dem Morgen, als das Schiff aussegelte, schwamm er hinaus zu ihr. Die Wachleute waren sich unsicher, ob die Gesetze des Shōguns auch für Affen gelten, aber sie ließen ihn ziehen. Nach seiner Flucht blieben nur Dr. Marinus, Ivo Oost und ich aus Ihrer Zeit als ‹Famula› übrig. Arie Grote ist zweimal nach Dejima zurückgekommen, aber nur für die Handelszeit.»
    Yūan macht einen Scherz, und Yayoi lacht.
    «Falls Aibagawa-sensei zufällig ... Dejima besuchen möchte, wäre ... wäre ich ...»
    «Faktor de Zoet ist sehr liebenswürdig, aber ich muss morgen zurück nach Miyako. Mehrere Hofdamen sind schwanger und benötigen meine Hilfe.»
    «Natürlich! Natürlich. Es war nicht meine Absicht ... ich meine, ich wollte nicht ...»
    Jacob fühlt einen Stich. Ihm fehlt der Mut auszusprechen, was nicht seine Absicht war. «Ihre Arbeit», stammelt er, «Ihre ... Ihre Verpflichtungen haben Vorrang.»
    Am Fuß der Treppe reiben Sänftenträger ihre Waden und Schenkel mit Öl ein, in Vorbereitung auf den beschwerlichen Rückweg in die Stadt.
    Sag es ihr , befiehlt sich Jacob, oder du wirst deine Feigheit ein Leben lang bereuen. Er beschließt, seine Feigheit ein Leben lang zu bereuen. Nein, ich kann nicht.
    «Da ist etwas, das ich Ihnen sagen muss. An dem Tag vor zwölf Jahren, als Sie von Enomotos Leuten verschleppt wurden, stand ich oben auf dem Wachtturm und ...» Jacob wagt nicht, sie anzusehen. «Ich sah Sie, als Sie auf die Wärter an der Landpforte einredeten, Sie hindurchzulassen. Vorstenbosch hatte mich kurz zuvor hintergangen, und ich verhielt mich wie ein beleidigtes Kind. Ich hätte nach unten laufen, mit den Wächtern streiten, Lärm schlagen, einen gewogenen Dolmetscher oder Marinus holen können ... aber ich tat nichts. Ich konnte weiß Gott nicht ahnen, welche Folgen meine Tatenlosigkeit haben würde ... und dass ich Sie nie Wiedersehen würde ... bis heute. Ein paar Augenblicke später kam ich zur Besinnung, aber ...», Jacob hat das Gefühl, als stecke ihm eine Gräte im Hals, «... aber als ich zur Landpforte eilte, um Ihnen zu - zu helfen, war es zu spät.»
    Orito geht langsam weiter und hört aufmerksam zu, aber ihr Blick ist gesenkt.
    «Ein Jahr später versuchte ich, meine Schuld wiedergutzumachen. Ogawa-sama bat mich, eine Schriftrolle für ihn zu verwahren, die ihm ein Flüchtling aus dem Schrein übergeben hatte, Ihrem Schrein, Enomotos Schrein. Einige Tage später erhielt ich die Nachricht von Ogawa-samas Tod. Viele Monate lang lernte ich Japanisch, damit ich die Schriftrolle entziffern konnte. Der Tag, an dem ich begriff, welchem Schicksal ich Sie durch mein Nichthandeln ausgesetzt hatte, war der schlimmste meines Lebens. Aber Verzweiflung würde Ihnen nicht helfen. Nichts konnte Ihnen helfen. Während des Phoebus -Vorfalls erlangte ich das Vertrauen von Statthalter Shiroyama und er meines. Aus den vielen Gerüchten, die sich um seinen und Enomotos Tod rankten, wurde ich nicht schlau ... aber kurze Zeit später erfuhr ich, dass man den Shiranui-Schrein zerstört und das Lehen Kyōga an den Fürsten von Hizen übergeben hatte. Ich erzähle Ihnen das ... ich erzähle Ihnen das, weil - weil es eine Lüge und ein Betrug wäre, es zu verschweigen, und ich kann Sie nicht belügen.»
    Iris blühen im Unterholz. Jacob fühlt sich elend und errötet.
    Orito legt sich ihre Antwort sorgfältig zurecht. «Wenn die Pein groß ist und Entscheidungen schmerzen, halten wir uns für Chirurgen. Aber die Zeit vergeht, und man sieht die Sache klarer, und jetzt erkenne ich, dass wir nur chirurgische Instrumente waren, mit denen die Welt sich vom Shiranui-Orden befreit hat. Hätten Sie mir an jenem Tag auf Dejima Schutz gewährt,
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