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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Autoren: David Mitchell
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duftenden Seifen, verstockte Zeugen, geschmierte Richter, geifernde Schwiegermütter und Bienenzüchter, über Sänften mit jungfräulichen Töchtern, Tore mit stoischen Wächtern, schweigende Nonnen, neunjährige Huren, Novizen, Beutelschneider und ihre Komplizen, Syphilitiker mit entstellten Gesichtern, Spitzel, die im Verborgenen flüstern, über Barbiere, Ölverkäufer, Wasserträger, Kartenleger, vom Leben betrogene Säufer, Lumpensammler, Straßenhändler, Messerschmiede und aufdringliche Tändler, Peiniger, Ammen und Eidbrecher, Erfinder, Neugeborene, Auserkorene, spielende Kinder, über Willensstärke und Fügsame, Unzufriedene und Genügsame, über die Abgewiesenen und die Werbenden, die Kranken und die Sterbenden, über das Dach eines Malers, der sich erst von der Welt und dann von seiner Familie zurückzog, um ein Meisterwerk zu schaffen, das sich schließlich seinem Schöpfer entzog. Und wieder dorthin zurück, wo ihr Flug begonnen hat, über die Veranda des Raumes der Letzten Chrysantheme, wo in einer Pfütze Regen der vergangenen Nacht verdunstet, eine Pfütze, in der Statthalter Shiroyama die verschwommenen Spiegelbilder von Möwen betrachtet, die durch Speichen aus Sonnenlicht gleiten. Diese Welt , denkt er, enthält nur ein Meisterwerk, und das ist sie selbst.

    Kawasemi hält Shiroyama das weiße Untergewand hin. Ihr Kimono ist mit blauen koreanischen Prunkwinden verziert. Das Rad der Jahreszeiten ist gebrochen, sagt das Frühlingsmuster zum Herbsttag, und ich bin es auch.
    Der fünfzigjährige Shiroyama steckt die Arme in die Ärmel.
    Sie kniet sich vor ihn, zupft den Stoff zurecht und streicht die Falten glatt.
    Dann legt sie ihm den Obi an.
    Sie hat ein ungewöhnliches grün-weißes Muster ausgewählt: Grün für das Leben, weiß für den Tod?
    Die kostspielig ausgebildete Kurtisane bindet den Obi zu einem meisterhaften Musubi-Knoten.
    «Ich brauche immer zehn Versuche», pflegte er früher zu sagen, «bis der Knoten richtig sitzt.»
    Kawasemi reicht ihm die knielange Haori-Jacke: Er zieht sie an. Die feine schwarze Seide ist federleicht und knirscht wie frischer Schnee. Die Ärmel sind mit dem Familienwappen bestickt.
    Zwei Räume weiter hört er die Schritte des zwanzig Monate alten Naozumi.
    Kawasemi reicht ihm das Inrō: Die Lackdose ist leer, aber ohne sie hätte er das Gefühl, er sei nicht vorbereitet. Shiroyama befestigt die Kordel an der Netsuke-Figur: Kawasemi hat einen geschnitzten Buddha aus Nashornvogel-Elfenbein für ihn ausgesucht.
    Mit ruhiger Hand reicht die Kurtisane ihm das Tantō-Messer und die Scheide.
    Ich wünschte , denkt er, ich könnte in deinem Haus sterben, wo ich am glücklichsten war ...
    Er steckt die Scheide auf die vorgeschriebene Weise in den Obi.
    ... aber die Etikette muss eingehalten werden.
    «Schsch!», macht die Zofe im Zimmer nebenan. «Sssss!», lacht Naozumi.
    Eine Patschhand schiebt die Tür auf, und der Junge, der wie Kawasemi aussieht, wenn er lächelt, und wie Shiroyama, wenn er nachdenklich ist, flitzt ins Zimmer, gefolgt von der tiefbeschämten Zofe.
    Sie sinkt in der Tür auf die Knie. «Ich bitte Eure Hoheit um Verzeihung.»
    «Hab dich!», ruft der Knirps mit breitem Grinsen und fällt hin.
    «Pack weiter unsere Sachen», sagt Kawasemi zu ihrer Zofe. «Ich rufe dich, wenn es Zeit ist.»
    Die Zofe verbeugt sich und zieht sich zurück. Ihre Augen sind verweint.
    Der kleine Wirbelwind steht auf, reibt sich die Knie und tapst zu seinem Vater.
    «Heute ist ein wichtiger Tag», sagt der Statthalter von Nagasaki.
    Naozumi kräht: «‹Entlein im Ententeich, ich-ni-san?›»
    Mit einem Blick gibt Shiroyama seiner Konkubine zu verstehen, sie solle unbesorgt sein.
    Es ist das Beste so , denkt er , jetzt, wo er noch zu jung ist, es zu begreifen.
    «Komm», sagt Kawasemi und kniet sich hin, «komm zu mir, Nao-kun ...»
    Der Junge setzt sich bei seiner Mutter auf den Schoß und steckt die Hand in ihr Haar.
    Shiroyama sitzt vor ihnen und bewegt die Arme wie ein Zauberer ...
    ... und öffnet vor den gebannten Augen des Jungen die Hand.
    Darin liegt eine elfenbeinerne Burg auf einem elfenbeinernen Berg: winzige Fußabdrücke, Wolkenreliefs, Pinien, Mauern aus Stein ...
    «Dein Urgroßvater hat das geschnitzt», sagt Shiroyama, «aus dem Horn eines Einhorns.»
    ... ein Torbogen, Fenster, Schießscharten und ganz oben eine Pagode.
    «Du kannst ihn nicht sehen», sagt der Statthalter, «aber in dieser Burg wohnt ein Prinz.»
    Du wirst diese Geschichte vergessen ,
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